Eugen Ruges "Follower"
15. September 2016Deutsche Welle: Wie kamen Sie auf die Idee, einen Zukunftsroman zu schreiben?
Eugen Ruge: Ich hatte vor sehr langer Zeit mal einen Traum: Ich habe sehr früh angefangen, mich mit Computern zu beschäftigen. Irgendwann kam Windows, und ich hatte, nachdem mir das Ding eines Abends bei der Installation immer abgestürzt war, einen Traum: Ich flog mit einem Flugsimulator – er hieß damals FS4 – in eine Landschaft hinein, immer durch "Windows" hindurch, bis ich dort notlandete, in einem schrecklichen, künstlichen Chicago. Ich brauchte ein Passwort, um dort wieder raus zu kommen, aber ich wusste dieses Passwort nicht. Das war eine ganz schreckliche, klaustrophobische Situation. Ich wachte dann irgendwann auf und war sehr erleichtert, dass ich wieder in der Realität war. Vor meinem Fenster stand ein einfacher, schlichter Birkenbaum, und ich sah die Blätter im Wind flirren. Ich begriff zum ersten Mal auf eine tiefe, innige Weise, wie schön diese Welt, die wirkliche Welt ist. Auch wenn es nur eine einfache Birke war. Und wie stümperhaft das ist, was wir im Stande sind zu erzeugen. Das war einer der Ausgangspunkte. Es kommen natürlich noch viele andere hinzu, aber die klaustrophobische Erfahrung dieses Traums, die zieht sich durch das ganze Buch. Ursprünglich fing das Buch auch mit einem sehr ähnlichen Traum an. Der war dann aber irgendwann nicht mehr nötig.
Ihr Buch "In Zeiten des abnehmenden Lichts" war ein Abgesang auf die DDR. Der Wenderoman hat sich allein in Deutschland über eine halbe Million Mal verkauft. Jetzt blicken Sie statt in die Vergangenheit in die Zukunft. Gibt es zwischen diesem Buch und Ihrem neuen Roman "Follower" trotzdem einen gemeinsamen Nenner?
Die beiden Romane sind durch einen Erzähltrick miteinander verbunden. Nämlich dadurch, dass der fiktive Enkel in "Follower" der Enkel von Alexander Umnitzer ist, welcher in "In Zeiten des abnehmenden Lichts" selbst der Enkel war. Außerdem erzähle ich in einem "Genesis" genannten Kapitel die Familiengeschichte vom Urknall bis zur Geburt meines Protagonisten, vierzehn Milliarden Jahre auf 50 Seiten.
Sie haben eine Welt des Jahres 2055 entworfen, die der unseren sehr nah ist, im technischen Fortschritt nur wenig hochgerechnet. Viele der von Ihnen im Buch erwähnten Erfindungen gibt es schon, zum Beispiel die Datenbrille Glass. Nur ist die Überwachung im Ihrem Roman-Zeitalter von Big Data total. Ist das Buch eine Warnung vor dem digitalen Totalitarismus?
Das kann man so lesen, wenn man will. Aber ich schreibe ja keine "Warnung". Ich habe einfach versucht, ein paar Dinge hochzurechnen, und mich psychisch und fast physisch in diese Umstände hineinzuversetzen, diese Realität so intensiv wie möglich 'vorzuerleben'. Der größte Teil des Romans ist sehr streng aus der Perspektive der Figur Nio Schulz geschrieben, sehr nah, sehr mikroskopisch. Da werden alle Wahrnehmungen, alle Nachrichten, alle Gedanken relativ minutiös geschildert. Das habe ich gemacht, um eine Erfahrung zu machen, die ich in Wirklichkeit gar nicht machen kann, weil es sich ja um die Zukunft handelt. Ich wollte die Erfahrung auf diese Weise vorwegnehmen.
Ihr Protagonist Nio Schulz ist ein Handelsvertreter, der sich in China aufhält, um ein Nichts zu verkaufen, ein kommerzielles gedankliches Konzept, "True barefoot running". Warum China bzw. der von einem Konzern aufgekaufte Staat HTUA-China?
Das ist rein erzählerisch bedingt. Durch China lässt sich die Verfremdung dieser Welt noch stärker erzählen. Und es ist natürlich so, dass die Sprachbarriere eine Rolle spielt, das Alleinsein in der Welt, das Nicht-verstanden-Werden, das einerseits Total-connected-Sein, wie Nio Schulz sagen würde, andererseits aber auch 'total disconnected' zu sein - das lässt sich in diesem doch immer noch fremden Land besser erzählen. In der Zukunft, die ich mir vorstelle, ist China allerdings auch ein Land, das technisch und wirtschaftlich dem Rest der Welt inzwischen ein Stück voraus ist. China ist der wichtigste, größte Handelspartner der anderen Zonen, die es im Buch noch gibt.
Wie kamen Sie auf den Handlungsort "Wu Cheng", "Stadt ohne Stadt", und woher beziehen Sie Ihre Chinesischkenntnisse - es kommen ja eine ganze Menge chinesische Wörter vor?
Ich war mal drei Wochen lang in China. Als ich da war, wusste ich zwar noch nicht, dass ich über China schreiben würde, aber ich habe diese Erfahrung dann natürlich genutzt. Und ich habe Leute kennengelernt, die ich dann gefragt habe. Manches habe ich auch im Wörterbuch nachgeschlagen. Auch bei meiner chinesischen Übersetzerin habe ich nachgefragt oder bei zwei verschiedenen deutsch sprechenden Professoren dort in Peking und Schanghai - so einfach ist das.
Sie waren zu DDR-Zeiten als Mathematiker Mitglied der Akademie der Wissenschaften, der renommiertesten Forschungseinrichtung der DDR. In Ihrem neuen Buch gibt es eine Stelle, die mich an den Anfang von Musils "Mann ohne Eigenschaften" erinnerte. Dort wird über den ersten Absatz hinweg in nüchternen Worten und wissenschaftlichen Termini etwas beschrieben, was sich dann als "schöner Augusttag" zusammenfassen ließ. Sie beschreiben das Gefühl von Durst und den Griff zum Wasserglas mit Worten wie "Zustrom positiv geladener Kalziumionen", "Konfiguration von Myosinmolekülen" und "Abbau von Adenosintriphosphat". Ist das die Lust des Wissenschaftlers, die hier aus dem Autor spricht?
Da fragen Sie mich was… Man macht so was, weil man das Gefühl hat, das ist jetzt richtig, das muss jetzt hier an dieser Stelle sein. Das hat was zu tun mit dem Bedürfnis, das so mikroskopisch wie möglich zu beschreiben. Es hat auch etwas zu tun mit dem Begriff Transparenz. Nio Schulz ist eine transparente Gestalt. Er lebt in einer tatsächlichen Transparenzgesellschaft - und zwar unglücklicher Weise nicht in einer Transparenzgesellschaft, wo die Geschäfte der Politik transparent sind, sondern wo die Bürger vollkommen transparent sind. Und zwar sowohl für die Geheimpolizei als auch für den Markt. Aber auch dadurch, dass sie sich selbst transparent machen, in ihrer Netz-Community völlig transparent und angreifbar sind. Das ist wahrscheinlich der Grund, warum ich das interessant fand, Nio Schulz bis in die Synapsen hinterher zu spionieren.
Diese Figur ist in gewisser Weise auch ein Mann ohne Eigenschaften, in dem Sinne, dass sein Ich im Strom der Information und Daten, dem er ausgesetzt ist, auch tatsächlich verschwimmt. Bis er eigentlich niemand und gar nichts mehr ist. Er macht sich ja auch ständig Sorgen um seine Identität und zwar mit Recht.
Lesen Sie selbst gern Science Fiction?
Nicht so besonders gern. Ich habe natürlich dies und jenes gelesen. Aber es ist auch keine typische Science Fiction, was ich da geschrieben habe. Im Grunde ist es im Buch ja wie heute, ein bisschen schlimmer. Ich zeige auf keine Katastrophen, sondern das normale Leben, wie es sich sehr bald aus der Innenperspektive anfühlen könnte. Das ist, glaube ich, etwas ganz Anderes als der typische Zugang zum Science Fiction-Roman, der ja oft sehr phantastisch ist oder – neuerdings – von Katastrophen handelt.
Ihr Roman ist auch ungeheuer komisch, vor allem durch die immer wieder zur Charaktererfassung durch Datenüberwachung verschiedener Figuren eingefügten Tabellen, die am Ende in einer grafischen Darstellung des "Psychotyps" zusammengefasst werden. Dabei kommt dann so etwas Banales heraus wie der "Formtyp: Fischmaul" oder "Peitsche". Was wollen Sie mit diesem ironischen Humor bei einem so ernsten Thema erreichen?
Das ist auch ein Unterschied zur 'gewöhnlichen' Science Fiction. Das Buch ist ja in weiten Teilen eine Satire. Die Satire ist eine sehr typische Möglichkeit, durchaus ernste Themen so zu behandeln, ohne erhobenen Zeigefinger, ohne moralischen Impetus. Das ist eine Möglichkeit, die ich instinktiv gewählt habe, ich habe das gar nicht reflektiert. Ich habe natürlich immer darüber nachgedacht, was ich mache, aber das Wort Satire zum Beispiel benutze ich erst seit ein paar Tagen, nachdem ich selbst eigentlich verstanden habe, dass es tatsächlich ein satirischer Zugang ist.
Das Verschwinden Ihres Protagonisten Nio Schulz und die Suche nach ihm durch EUSAF, den europäischen Anti-Terror-Geheimdienst, und das Bundeskriminalamt macht Ihren Roman auch zu einem spannenden Thriller. Warum vermischen Sie die Genres SF und Thriller - und dann gibt es noch einen erdgeschichtlichen historischen Exkurs? Und Sie vermischen nicht nur die Genres, sondern auch die Formen - Erzählung, Tabellen und Formulare, Protokolle. Das Ende liest sich fast wie eine Art Langgedicht.
Die Frage würde ich mir andersherum stellen. Ich würde fragen, warum soll ich das nicht vermischen? Ich habe beim Schreiben nicht gedacht, ich schreibe jetzt etwas in einem bestimmten Genre. Ich habe einfach die verschiedenen Ebenen des Romans jeweils in eine Form gebracht, die mir stimmig und passend erschien. Sie sind ja auch sprachlich und von der Konstruktion her völlig verschieden. Ich wüsste nicht, warum ich mich auf eine bestimmte Form oder ein bestimmtes Genre beschränken sollte.
Man könnte sagen, die konsequente, auf Nio Schulze konzentrierte Romanhandlung bricht ab, indem Sie eine Kurzfassung der Genesis einfügen. Sie hat mich sehr berührt, da Sie auf diesen paar Seiten immer klarmachen, wie unwahrscheinlich die Entstehung des Weltalls, der Erde, des Lebens und des Menschen war. Eine Entwicklung, die hinführte auf den - wie Sie - 1954 geborenen Alexander Umnitzer, seinen Sohnes Markus und schließlich den Enkel Nio.
Damit entsteht eine bestimmte Fragestellung, die sich an uns alle, aber auch an diese Generation jetzt richtet. Was ich da geschrieben habe, ist eine Geschichte des Zufalls, wenn Sie so wollen. Ich habe zufälligerweise auch Wahrscheinlichkeitsrechnung und Statistik studiert. Es hat mich interessiert, dem Zufall nachzuspüren. Was ich dabei rausgefunden habe, ist eigentlich, dass die Dinge, die da in diesen 13,8 Milliarden Jahren der Geschichte des Universums passiert sind, so unwahrscheinlich sind, dass es eigentlich gar keinen Sinn hat, überhaupt von Zufall oder von Wahrscheinlichkeiten zu sprechen.
Das läuft nicht auf eine Gottesfrage hinaus?
Das kann jeder beantworten, wie er will. Ich habe das einfach festgestellt. Es ist auf jeden Fall, und darauf läuft es hinaus, ein Wunder. Das symbolisiert der Birkenzweig, von dem ich am Anfang sprach. Ein wirklich unglaubliches Geschenk. Die Frage ist, was wir mit diesem Geschenk machen.
Eugen Ruge lebte bis 1988 in der DDR, ehe er in den Westen übersiedelte. Er studierte Mathematk und arbeitete am Zentralinstitut für Physik der Erde. Seine schriftstellerische Laufbahn begann er 1986 mit Theaterstücken und Hörspielen. Für seinen Familienroman "In Zeiten des abnehmenden Lichts" erhielt er 2011 den Deutschen Buchpreis. Heute lebt er im Ostteil Berlins.
Eugen Ruge: "Follower", Reinbek bei Hamburg (Rowohlt Verlag) 2016, 320 Seiten