Pharma: Mehr Produktion in Europa gewünscht
8. Oktober 2024Es brauche keine Atombombe, um Europa einen empfindlichen Schlag zu versetzen, glaubt die Arzneimittelexpertin Ulrike Holzgrabe. Die Chinesen könnten die Europäer auch durch einen Lieferstopp bei Antibiotika hart treffen.
"China hat schon in den 1980er Jahren erkannt, wie wichtig es ist, eine eigene Antibiotikaproduktion zu haben", erzählt Jasmina Kirchhoff vom Institut der deutschen Wirtschaft in Köln (IW). "Es wurde massiv in Werke investiert, die im Vergleich kostengünstig produzieren, am Anfang in erster Linie für den heimischen Markt. Den 'Überschuss' hat China dann exportiert", so Kirchhoff.
Auch ein großer Teil der chemischen Vorprodukte, die für die Pharmaindustrie essenziell sind, wird in China hergestellt.
Neben China hat sich Indien zu einem Hauptlieferanten von Pharmaprodukten gemausert. Hier werden vor allem Generika produziert, also Medikamente, bei denen der Patentschutz ausgelaufen ist. Aber auch Indien hängt am Tropf von China, weil viele Pharmawirkstoffe von dort importiert werden müssen.
Es ist schon schwierig das Problem genau zu umreißen
Derzeit seien knapp 500 Medikamente nach Angaben des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte nicht lieferbar, sagte Gabriele Regina Overwiening, Präsidentin der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA), der "Neuen Osnabrücker Zeitung". "Das zeigt, dass wir in einer wirklich dauerhaften Lieferkrise stecken und dass wir hier noch keine Entwarnung haben.
"Öffentliche Gesundheit ist eine geostrategische Waffe, die einen Kontinent in die Knie zwingen kann", hieß es schon 2020 vom Europäischen Parlament.
Um die Problematik klar zu umreißen, wurde auf EU-Ebene eine Liste mit Medikamenten erstellt, bei denen es keine Abhängigkeit von Asien geben sollte. Der nächste Schritt wäre, herauszufinden, wo diese Medikamente und ihre Vorprodukte hergestellt werden - sprich, wie groß die Abhängigkeit genau ist, sagt Holzgrabe, die an der Universität Würzburg lehrt.
Und da fängt es auch schon an, schwierig zu werden. Gerade bei einzelnen Medikamenten seien solche Informationen sehr schwer herauszubekommen, meint Kirchhoff. "Welche Hersteller, welche Zwischenprodukte, Hilfsstoffe, Wirkstoffe woher beziehen, ist Teil des Geschäftsgeheimnisses und daher kaum bekannt."
Sowohl die Rezepturen als auch die Lieferketten seien oftmals sehr komplex und es sei daher unklar, wie viele Firmen in welchen Ländern involviert seien, so Kirchhoff. Gerade im Bereich der Generika, deren Erfolg am niedrigen Preis hängt, sei es für die Hersteller besonders wichtig, Marktvorteile vor Konkurrenten geheim zu halten.
Dass Vorsorgemaßnahmen nötig sind, haben immer wieder Lieferengpässe bei einzelnen Medikamenten in den vergangenen Jahren gezeigt. Schon während der Corona-Pandemie deutete sich das an - und mit dem russischen Gaslieferstopp im Herbst 2022 rückte das Thema 'Abhängigkeiten' grundsätzlich in den Fokus.
In Deutschland sollen wieder mehr Medikamente produziert werden
In Deutschland hat das Bundeskabinett im Dezember vergangenen Jahres die Nationale Pharmastrategie beschlossen. Unter anderem soll so die Pharmaproduktion in Europa gestärkt werden. Das will die Regierung beispielsweise mit dem Abbau von Bürokratie und Zuschüssen zu Investitionen in Produktionsstätten erreichen.
Dabei ist es nicht so, dass es gar keine Pharmaproduktion mehr in Europa gibt. Die europäische Pharmaindustrie stellt hier vor allem innovative, patentgeschützte Medikamente her. In diesem Bereich wird auch investiert, sagt Holzgrabe. "Deutschland ist im Bereich der Pharmaindustrie, der Medizin, Forschung und Entwicklung wirklich Spitze", sagt auch Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) gegenüber der DW.
Irgendwann läuft aber bei Arzneimitteln der Patentschutz aus und sie gehen in den generischen Markt über. Und gerade im Bereich der Generika lohnt sich eine Produktion in Europa kaum oder gar nicht, weil hier die Margen sehr niedrig sind. Dabei sind Generika sehr wichtig für das Gesundheitssystem, denn sie decken rund 80 Prozent der Grundversorgung mit Medikamenten ab. In diesem Bereich fallen auch viele Antibiotika.
Deswegen sei es so wichtig, Strukturen aufzubauen, dass es sich für Unternehmen lohnt, ihr Produkt auch nach Ablauf des Patentschutzes weiterhin produzieren zu können, meint Kirchhoff. Der Schlüssel dafür sei weniger eine Förderung von Investitionen, sondern vielmehr ein anderes Preissystem, findet Bork Bretthauer, Geschäftsführer von Pro Generika. "Wir brauchen keine Zombiewerke in Europa, die dauerhaft subventioniert werden müssen", sagt der Vertreter des Interessenverbandes der Generika- und Biosimilarunternehmen. Mit anderen Worten: Für europäische Medikamente aus Europa und damit mehr Unabhängigkeit muss Europa bereit sein, höhere Preise zu zahlen.
Krankenkassen müssen Produktion in Europa berücksichtigen
Ein erster Schritt in diese Richtung wurde in Deutschland bereits gemacht. Seit Mitte 2023 ist in Deutschland ein Gesetz in Kraft, mit dem umständlichen Namen Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetz, kurz ALBVVG. Auch dieses Gesetz soll Pharmafirmen motivieren, sich wieder in Europa niederzulassen beziehungsweise weiterhin hier zu produzieren, in dem ihnen bessere Preise gewährt werden.
Bislang ging es in Deutschland vor allem darum, die Kosten im Gesundheitssystem möglichst niedrig zu halten. Dafür haben die gesetzlichen Krankenkassen mit den Medikamentenherstellern Verträge über die Lieferung bestimmter Mengen von Medikamenten vereinbart. Die Preise sind gedeckelt. Für rund 80 Prozent der Medikamente, darunter vor allem Generika, gibt es Festbeträge. Das sind Höchstbeträge, die die gesetzlichen Krankenkassen bezahlen. Den Zuschlag bekommt die Firma, die am günstigsten liefern kann.
Das neue Gesetz ändert dieses Vorgehen zum Teil. Wenn Krankenkassen nun Ausschreibungen machen für bestimmte Wirkstoffe und für patentfreie Antibiotika, soll immer auch ein Vertrag an eine europäische Firma gehen.
"Beim Rest der Generika bleibt alles, wie es ist", beklagt der Verband Pro Generika. Ulrike Holzgrabe findet den Ansatz des Gesetzes grundsätzlich gut. Allerdings meint sie, die Bestimmungen würden in vielen Bereichen nicht umsetzbar sein, weil es schlichtweg keine europäische Produktion gebe.
Auch wenn das ALBVVG bislang nicht dafür sorgt, dass sich hier mehr Hersteller ansiedeln, habe es immerhin geholfen, dass nicht noch mehr Hersteller aus dem Markt ausgestiegen sind, so Kirchhoff.
Deutsches Gesundheitswesen macht Produktion in Europa unrentabel
Höhere Preise scheinen unumgänglich, wenn Europa mehr Sicherheit möchte. So günstig wie in Asien lässt sich in Europa nicht produzieren. "Wir haben ein schlechtes Quartett aus überbordender Bürokratie, Fachkräftemangel, zu hohen Energiekosten und bröckelnder Infrastruktur", sagte der Hauptgeschäftsführer des Verbandes der Chemischen Industrie, Wolfgang Große Entrup, Ende April.
In China profitierten Firmen neben den niedrigeren Arbeits- und Energiekosten davon, dass ihnen der Staat Grund und Boden zur Verfügung stellen würde, wenn sie eine Produktion errichten, so Holzgrabe. Und sie müssen auch nicht so strenge Umweltauflagen erfüllen wie in Europa. Hier verpflichtet beispielsweise das 2007 eingeführte Reach-Gesetz alle Hersteller sicherzustellen, dass die von ihnen produzierten Stoffe keinen nachteiligen Einfluss auf die menschliche Gesundheit oder die Umwelt haben. Eine riesige Hürde für Hersteller von Generika, hier zu produzieren.
Das mache es schwer, vor allem die Wirkstoffproduktion zurück nach Europa zu holen, so Holzgrabe. "Eine Unabhängigkeit von China wird es da nicht geben", glaubt sie. Viel wichtiger sei es, dass die Produktion, die man hier habe, nicht auch noch abwandere. Zumal die europäische Pharmaindustrie nicht nur wichtig sei, um bei Krankheiten Hilfe zu bieten. Während der Corona-Pandemie hätten nur deswegen schnell Impfstoffe entwickelt werden können, weil es noch eine forschende Pharmaindustrie in Europa gegeben habe, ist Holzgrabe überzeugt.
Dieser Artikel wurde erstmals am 07.05.2024 veröffentlicht.