Libyens Zivilbevölkerung zwischen den Fronten
19. Juni 2018Die Geräusche von Raketen und Schüssen hallen von den Wänden des Hauses wider, in dem Aya zusammen mit ihren Eltern, Geschwistern und deren Kleinkindern auf dem Küchenboden kauert. Während die Gefechte immer heftiger werden, verstecken sie sich dort stundenlang vor Querschlägern.
Es ist Anfang Juni, Seit einem Monat ist das ostsyrische Darna Schauplatz einer blutigen Auseinandersetzung zwischen der "Nationalen Libyschen Armee" (LNA) unter General Chalifa Haftar und einer Gruppe aus Islamisten und Dschihadisten. Bis vor kurzem waren sie noch als "Mudschaheddin-Schura-Rat von Darna" bekannt, dann haben sie sich in "Schutzkräfte von Darna" (DPF) umbenannt. "Wir haben der LNA und Nachrichtensendern auf sozialen Netzwerken geschrieben und sie angefleht, uns zu helfen, sicher hier herauszukommen", schreibt Aya, deren Name aus Sicherheitsgründen geändert wurde, noch aus ihrer Küche im Haus in Darna.
Tausende Vertriebene, Dutzende Tote
Am 9. Juni dann gelingt Ayas Familie die Flucht in eine 80 Kilometer entfernte Kleinstadt. Zu dem Zeitpunkt wurden bereits mindestens 2183 Familien aus ihrer gewohnten Umgebung gerissen, so dieZahlen der Internationalen Organisation für Migration (IOM). Zudem sollen laut Menschenrechtsorganisationen Dutzende Menschen getötet worden sein - die Sorge, dass es noch viele mehr werden, ist groß.
Dennoch scheint der Rest der Welt nicht sonderlich interessiert daran, eine weitere Tragödie im Bürgerkriegsland Libyen zu verhindern. Ende Mai empfing Frankreichs Präsident Emmanuel Macron vier rivalisierende libysche Anführer in Paris, einschließlich General Haftar. Weder Macron, noch Haftar oder sonst jemand erwähnt bei dem Treffen die Lage in Darna. "Niemand kümmert sich um uns", ist auch Ayas Eindruck, "Zivilisten, von denen die Internationale Gemeinschaft keinen Nutzen hat, sind ihr egal."
Unzählige Kriegsverbrechen
Die LNA behauptet, sie habe mehr als 75 Prozent von Darna erobert. Laut den Bewohnern explodiert die Gewalt; sowohl die LNA als auch die DPF nähmen nur wenig Rücksicht auf das Leben von Zivilisten.
Haftar selbst stellt die LNA als wohlwollende Armee dar, die das Land von Terroristen säubert. Aber die Realität ist komplexer: Die LNA keine offizielle Armee, sondern eine lose Allianz von Milizen und Stämmen, die sich 2014 unter dem General zusammengetan haben, der sich 2011 gegen seinen ehemaligen Oberbefehlshaber, Ex-Diktator Muammar al-Gaddafi, stellte. Seitdem hat die Militärgruppe unzählige Kriegsverbrechen begangen, in Darna zeichnet sich das nächste ab.
"Eine Hand muss amputiert werden"
Anfang Juni fährt eine 60-jährige Frau mit ihrem Sohn zu Darnas großem Markt, um Benzin, Essen und Wasser für die Familie zu besorgen. Nur Sekunden, nachdem der Sohn aussteigt, hört er eine laute Explosion hinter sich. Ein Wurfgeschoss von Haftars Milizen hat das Auto getroffen - seine Mutter sitzt noch drin.
"Sie hatte Wunden von Granatsplittern im Gesicht, auf dem Rücken und an den Händen", erzählt Fairouz, die Großnichte der verletzten Frau. "Ein Krankenwagen der LNA hat sie in ein Krankenhaus in Al-Bayda gebracht, einer Stadt in der Nähe. Sie hat überlebt, aber die Ärzte sagten, dass eine Hand amputiert werden muss."
Fairouz kommt ursprünglich ebenfalls aus Darna. 2014 zog sie mit ihrer Familie in einen Vorort, um der Herrschaft der Extremisten, unter ihnen auch Kämpfer des "Islamischen Staates" (IS), zu entfliehen. Sie hatten Darna im November des Jahres eingenommen. Fairouz zufolge unterstützen die meisten Bewohner - so wie sie selbst - immer noch die LNA, obwohl sie seit nunmehr zwei Jahren die Stadt belagert.
Klima der Angst
Doch Einige fürchten sich auch vor einer Übernahme durch die LNA. Eine 32-jährige Frau, die ihren Namen lieber nicht nennen will, erzählt, sie habe deren rücksichtsloses Vorgehen auf Facebook kritisiert. Das war einige Tage, nachdem Haftar Anfang Mai den Beginn der Operation Darna verkündet hatte. Nachbarn hätten daraufhin ihre Familie gewarnt, sie solle ihre Tochter zum Schweigen bringen.
Auch Fairouz gibt zu: "Ich weiß, dass die LNA einfach jeden verhaften wird, der gegen sie ist, wenn sie einmal die ganze Stadt unter ihrer Kontrolle haben." Ein zuletzt in Facebook zirkulierendes Video, dass die Deutsche Welle nicht verifizieren kann, zeigt angeblich Haftars Soldaten, wie sie zwei Unbewaffnete auf der Straße hinrichten.
Ende der Gewalt nicht in Sicht
Lidya Sizer, Mitarbeiterin des "Middle East Institutes" (MEI) und Expertin für libysche Terrorgruppen, warnt davor, dass die große Angst der LNA vor den islamistischen Zellen der DPF und Sympathisanten nach einer Übernahme Darnas zu Misshandlungen der Bewohner führen könnte. "Falls die LNA so handelt, riskiert sie die Rückkehr der DPF und entfacht den Konflikt neu", so Sizer. "Und wenn die DPF völlig zerstört sind, ist es möglich, dass ihre Kämpfer sich dem IS anschließen - auch wenn die beiden Gruppen sich vor drei Jahren noch gegenseitig bekriegt haben."
Möglich wäre auch, erklärt Sizer weiter, dass Haftars Truppen Familien an der Rückkehr in ihre Heimatstadt hindern mit der Begründung, nur DPF-Unterstützer seien aus Darna geflohen. Dabei beteuern die meisten Geflohenen, sie hätten nur einen verletzten Verwandten ins Krankenhaus begleitet oder wegen der heftigen Gefechte das Weite gesucht.
Was auch immer der jeweilige Grund gewesen sein mag - viele befürchten nun, dass ihre Häuser geplündert und zerstört werden könnten. Noch größer ist allerdings die Angst, dass die Gewalt vielleicht niemals aufhört. "Die meisten islamistischen Kämpfer werden nicht aufgeben", so ein LNA-Soldat. "Sie glauben, Darna ist ihr Dschihad."