Libyen als Retter in der Not - für die EU
5. Juli 2018Beim letzten EU-Gipfel vor einer Woche haben die Staats- und Regierungschefs zum wiederholten Male beschlossen, die Außengrenzen der EU vor vermeintlich illegalen Einreisen zuschützen. Gemeint ist hier vor allem die Seegrenze zwischen Italien und Libyen. Wie man das macht, hat die neue rechtspopulistische Regierung in Rom schon Ende Juni demonstriert: Sie verweigert privaten Rettungsschiffen nicht nur die Einfahrt in italienische Häfen, sondern hat auch mit Libyen vereinbart, dass die sogenannte Einheitsregierung die Verantwortung für die Seenotrettung in den eigenen Gewässern wieder selbst übernimmt. Libyen hat am 22. Juni der "Internationalen Meeres-Organisation" (IMO), einer Agentur der Vereinten Nationen mit Sitz in London, mitgeteilt, dass es jetzt nach jahrelangen Verzögerungen in der Lage sei, alle Auflagen für die Übernahme der Seenotrettungszone (SAR) zu erfüllen.
Libyen trägt Verantwortung
"Die libysche Küstenwache trägt jetzt die Verantwortung. Sie ist von unserer Küstenwache ausgebildet worden. Sie hat die Fähigkeiten das jetzt zu leisten", sagte die italienische Verteidigungsministerin Elisabetta Trenta dem Sender Sky24. Italien hat der libyschen Küstenwache erst kürzlich zwölf zusätzliche Schiffe zur Verfügung gestellt. Die EU hat die Ausbildung der Küstenwache finanziert und wird über die Jahre rund 280 Millionen Euro in den Aufbau der libyschen Kräfte investieren.
Bis Mitte Juni hatte Italien die Verantwortung für das gesamte Seegebiet zwischen Italien und der libyschen Zwölf-Meilen-Zone übernommen. Alle Such- und Rettungsmaßnahmen, auch die von privaten Hilfsorganisationen, waren bis dahin von der Seenotzentrale der italienischen Marine koordiniert worden. Jetzt wurde den Schiffen, die sich in einen Gebiet von 76 Meilen vor Libyen aufhalten, von der Marine mitgeteilt, sie sollten sich an die Küstenwache in Libyen wenden, um eventuell aus Seenot gerettete Migranten dort auch wieder abzuladen, berichteten italienische Medien.
Konvention über Seenotrettung von 1979
Die Rettungszonen der verschiedenen Mittelmeeranrainer waren 1979 in einer Konvention der "Internationalen Meeres-Organisation" (IMO) festgelegt worden. Libyen war diesem Vertrag damals nicht beigetreten. Dieser Schritt erfolgte erst 2016. Voraussetzung für die Übernahme einer Rettungszone ist nach Angaben von Natasha Brown, Pressesprecherin der IMO, die Einrichtung einer 24 Stunden besetzten Leitstelle, in der Englisch gesprochen wird. Malta blockiert Flugzeug deutscher Seenotretter
Mit Hilfe Italiens hat Libyen diese Leitstelle bei Tripolis wohl jetzt eingerichtet. Noch ist das ganze ein Provisorium. Bis 2020 soll eine moderne Leitstelle gebaut werden, teilte die Bundesregierung auf eine Anfrage der Linken-Fraktion im Bundestag mit. Das Projekt trägt den Namen "Aurora" und wird von der Europäischen Union finanziert. Die Absicht ist wohl, dass die libysche Küstenwache, gerettete Migranten zurück nach Libyen bringt, damit sie Italien oder andere EU-Staaten nicht mehr erreichen. Der linke Bundestagsabgeordnete Andrej Hunko kritisierte das Vorgehen scharf. Die EU verstoße gegen Völkerrecht, wenn sie sich daran beteilige, aufgegriffene Bootsflüchtlinge in das unsichere Libyen zurückzubringen.
IMO: Pflichten für die Staaten
Die "Internationale Meeres-Organisation" weist darauf hin, dass die Verantwortung für die Seenotrettung nicht bedeutet, dass die libysche Küstenwache private Rettungsschiffe jetzt ohne besonderen Grund an der Einfahrt in ihre Hoheitsgewässer hindern dürfe. Die IOM-Konvention vergibt keine Rechte für die Kontrolle von Schiffsbewegungen, schon gar nicht zur Verhinderung von Seenotrettung. Die Konvention überträgt lediglich Verantwortung und Pflichten in Kooperation mit den Nachbarstaaten", sagte Natasha Brown von der UN-Agentur der Deutschen Welle. Ein Rechtsgutachten des Wissenschaftliches Dienstes des Bundestages vom vergangenen Jahr besagt allerdings, dass die libysche Küstenwache nach internationalem Seerecht ein "erstes Zugriffsrecht" auf Schiffbrüchige geltend machen und ausländische Schiffe anweisen könne, diese Menschen nach Libyen zu bringen.
Zweifel an Einsatzfähigkeit der Libyer
Im vergangenen Jahr war die libysche Küstenwache relativ rabiat gegen private Helfer vorgegangen, die Schiffbrüchige an Bord nehmen wollten. Bislang bestand die Küstenwache des nicht einheitlich regierten Staates aus vier Booten, die hauptsächlich im Westen um Tripolis herum operierten. Die britische Zeitung "Times" berichtete am 1. Juli, nur die Hälfte der Boote sei einsatzfähig. Angehörige der libyschen Küstenwache hätten den Reportern erklärt, sie seien überfordert und hätten noch nicht einmal genug Schwimmwesten, um alle Schiffbrüchigen zu versorgen. Der Kapitän des festgesetzten Rettungschiffs "Lifeline" Claus-Peter Reisch bestätigte die Angaben. Bei seiner Anhörung auf Malta sagte er, die libysche Küstenwache sei nicht professionell ausgestattet.
Zahl der Ertrunkenen steigt
Nach dem Sturz des libyschen Diktators Muammar al-Gaddafi versank Libyen im Chaos. Die EU und die italienische Regierung arbeiten schon seit Jahren daran, die Küstenwache aufzubauen und so Schmuggler und Migranten von der gefährlichen Überfahrt abzuhalten. Die neue rechtspopulistische Regierung in Italien hat die Übertragung der Seenotrettung an Libyen also nicht erfunden, sondern setzt sie nur sehr schnell und ohne große Rücksicht auf Verluste um. Seit mehrere Rettungsschiffe und ein Beobachtungsflugzeug privater Organisationen von Italien und Malta am Auslaufen gehindert werden, steigt die Zahl der Ertrunkenen in dem Seegebiet an. Das teilte die "Internationale Organisation für Migration" (IOM), eine weitere Agentur der Vereinten Nationen, mit. IOM-Sprecher Flavio di Giacomo beklagte, dass wieder mehr Rettungsschiffe unterwegs sein müssten, um das Ertrinken von noch mehr Menschen zu verhindern.
"Libyen ist ein gescheiterter Staat mit mehreren Regierungen", sagte die Migrations-Expertin Nicole Hirt vom Giga-Institut für Afrika-Studien in Hamburg dem Evangelischen Pressedienst. "Die Küstenwache besteht aus unterschiedlichen Warlords, die sich den Namen Küstenwachen gegeben haben, um Geld von Europa zu bekommen", so Hirt. Die Küstenwache sei selbst in den Menschenschmuggel involviert. "Sie retten die Flüchtlinge, damit sie verkauft werden können."
"Ausgerechnet Libyen?"
Der Gründer der privaten Hilfsorganisation Sea-Eye in Regensburg, Michael Buschheuer, sagte der DW, es sei völlig unverständlich, dass ausgerechnet Libyen die Verantwortung für die Seenotrettung übertragen werde. Aus allen Berichten der Vereinten Nationen wisse man, dass zurückgekehrte Flüchtlinge in Libyen nicht nur zufällig, sondern systematisch gefoltert, vergewaltigt, unterdrückt oder in der Wüste ausgesetzt würden. Die Schleuserbanden seien identisch mit Kräften der Küstenwache und erhielten indirekt Geld von der EU. "Libyen ist das einzige Land, dem man die Seenotrettung nicht anvertrauen sollte, aber genau das ist jetzt passiert."