Libanon: Wie stark ist die Hisbollah nach Israels Angriffen?
24. September 2024Eine "Kriegssituation": So bezeichnete der Außenbeauftragte der EU, Josep Borrell, am Montag die Lage im südlichen Libanon. Vorausgegangen waren mehrere Wellen harter Luftangriffe durch Israel. Die richteten sich wesentlich gegen Ziele im Süden und in der Bekaa-Ebene, die als Zentren der Hisbollah gelten. Betroffen waren aber auch andere Gebiete des Landes. Die israelische Armee (IDF) schrieb auf dem Kurznachrichtendienst X, sie habe 300 Hisbollah-Ziele attackiert.
Angaben des libanesischen Gesundheitsministeriums zufolge fielen rund 500 Menschen den Angriffen zum Opfer, darunter auch rund 60 Frauen und 40 Kinder. Über 1600 weitere Personen wurden demnach verletzt. Zehntausende Menschen waren und sind auf der Flucht und suchen Schutz in der Hauptstadt Beirut. Das israelische Militär hatte die Bewohner des Südens zuvor aufgefordert, das Gebiet aus Sicherheitsgründen zu verlassen.
Umgekehrt beschießt die Hisbollah weiterhin israelisches Territorium. Am Wochenende nahm sie auch weiter von der Grenze entfernte Städte wie Nazareth und Haifa ins Visier. Die israelische Luftverteidigung konnte die überwiegende Zahl der Raketen abfangen.
Militärische Rückschläge für die Hisbollah
Militärisch hat Israel die Hisbollah offenbar hart getroffen. Die Organisation sei "erheblich geschwächt", zitiert der Nachrichtensender CNN US-Vertreter in Washington. Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt auch der in Beirut lebende Journalist Ronnie Chatah, Betreiber des Podcasts "The Beirut Banyan". Die Aufrüstung der Hisbollah in den vergangenen Jahren dürfte in erheblichem Umfang zunichte gemacht worden sein. "Das gilt für den Geheimdienst und den militärischen Nachrichtendienst der Hisbollah ebenso wie für ihre militärischen Fähigkeiten, ganz zu schweigen von dem über das Pager-Netzwerk laufende Kommunikationssystem", so Chatah zur DW.
Wie genau und in welcher Hinsicht die Hisbollah geschwächt worden ist, lasse sich derzeit nicht genau sagen, heißt es in einem Artikel der israelischen Zeitung "Jerusalem Post" vom Montag. das Blatt erörtert mehrere Möglichkeiten: Die Hisbollah habe entweder einen Teil ihrer Raketenwerfer verloren oder könne sie wegen der erlittenen Verluste derzeit nicht koordinieren - oder habe schlicht noch nicht ihre gesamten Abschussmöglichkeiten offenbart. Sie verfüge zwar weiterhin über ein großes Raketenarsenal. Aber das laufe nicht gezwungenermaßen auf entsprechende Abschusskapazitäten ihrer Raketen hinaus. "Bisher scheint es jedoch, als sei ihre Abschussfähigkeit von den Israelischen Verteidigungskräften (IDF) unterdrückt worden."
Auch der Ausfall der elektronischen Kommunikation durch die Massenexplosion von Pagern und Funkgeräten in der vergangenen Woche dürfte der Hisbollah zugesetzt haben, sagt Bente Scheller, Leiterin des Referats Nahost und Afrika der Heinrich-Böll-Stiftung. "Zudem hat sie Kommandeure und Milizen verloren, die sie nicht leicht ersetzen kann. Das alles schwächt die Hisbollah."
Israels Angriffe schaffen Zusammenhalt
In Zeitungen, die der Hisbollah verbunden sind, finden sich deutliche Bekenntnisse zu der Organisation und ihrem Vorgehen. In anderen Medien dagegen wird insbesondere Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah scharf kritisiert. So warf das libanesische Blatt "An-Nahar" in einem Kommentar am vergangenen Sonntag Nasrallah vor, die libanesische Gesellschaft erheblich geschwächt zu haben. Darum solle die Hisbollah nicht erstaunt sein, wenn Teile der libanesischen Gesellschaft regelrecht Schadenfreude empfänden, wenn nun auch deren Milizen getroffen würden. Nasrallah solle seine Kriegsentscheidung überdenken, heißt es in dem arabischsprachigen Artikel weiter. Denn die Libanesen zahlten einen hohen Preis für diesen Krieg.
Die Hisbollah habe im Libanon eine starke Basis, die ihren Kampf für richtig halte, sagt Ronnie Chatah. "Ich glaube aber nicht, dass diese Unterstützung in jüngster Zeit gewachsen ist. Sie wird aber auch nicht kleiner geworden sein. Allerdings dürfte es ein erhebliches Mitgefühl für die gestorbenen Zivilisten geben. Und es mag sein, dass in einer solchen Situation die Grenzen etwas verschwimmen und sich ein Gefühl der Verbundenheit einstellt."
Ihrem Eindruck nach empfänden viele Libanesen die Detonationen der Pager in der vergangenen Woche als Angriff auf die gesamte Bevölkerung, sagt Bente Scheller. Es gebe erhebliches Mitgefühl für die getöteten Zivilisten. "Und dieses Gefühl macht eine politische Lösung natürlich schwierig. Israel hat zwar sein primäres Ziel erreicht, die militärische Schlagkraft der Hisbollah zu reduzieren. Aber offen ist, wie es jetzt weitergeht, wie man zu Verhandlungen kommt, die letztlich ja auch für die Sicherheit Israels sehr wichtig sind."
Spekulationen über die Unterstützung des Iran
Unterdessen berichtet die panarabische Zeitung "Asharq al-Awsat", in Teilen der libanesischen Gesellschaft herrsche der Eindruck, der Iran gehe zunehmend auf Distanz zur Hisbollah. "Das libanesische Volk spürt, dass die Hisbollah, die sich früher damit brüstete, vom Iran unterstützt zu werden, den Kampf nun allein führt", zitiert das Blatt Fares Souaid, ehemals Mitglied des libanesischen Parlaments und bekannter Kritiker der Hisbollah. "Es ist, als ob sie ihrem Schicksal überlassen wäre, während der Iran seine Angelegenheit mit dem Westen regelt", so Fares unter Anspielung auf offenbar bevorstehende neue Atomgespräche zwischen dem Westen und dem Iran. Das mag Propaganda sein, zeigt aber, wie sehr um die Deutungshoheit im Libanon gerungen wird.
Zumindest derzeit gibt sich die Hisbollah nicht beeindruckt, meint die "Jerusalem Post": "Es besteht kein Zweifel, dass die Hisbollah zurückschlagen will."
Mitarbeit: Rola Farhat, Libanon