Libanon: Influencer kämpfen gemeinsam gegen Hass im Netz
21. September 2021An schwierigen Themen gibt es im krisengeschüttelten Libanon keinen Mangel. An hitzigen Diskussionen auch nicht. Die zu einem großen Teil junge und technikaffine Bevölkerung postet, bloggt und tweetet aktiv und zum Teil höchst emotional über politische, wirtschaftliche und religiöse Themen und Meinungen.
So verwundert es nicht, dass Online-Plattformen in Politik und Alltag eine große Rolle spielen, wenn man bedenkt, dass fast 80 Prozent der Bürger das Internet nutzen: 5,3 Millionen Menschen sind dies in absoluten Zahlen, fast 4,4 Millionen davon nutzen regelmäßig soziale Medien, berichtet das Portal datareportal.com.
Da das Land insgesamt nur 6,8 Millionen Einwohner hat, kann man sich leicht ausrechnen, welchen Einfluss Postings von libanesischen Influencern wie Nadine Njeim mit 2,8 Millionen Followern auf Facebook, der TV-Moderatorin Amanie Geha mit mehr als 100.000 Followern auf Twitter oder Ghayd Chammas mit fast 334.000 Followern auf Instagram insbesondere auf jüngere Bürger in dem Zedernstaat haben können.
Um die Popularität der Influencer für einen guten Zweck zu nutzen, hat das Beiruter Büro der in Berlin ansässigen Berghof Foundation zwanzig libanesische Influencer ausgewählt, deren Aufgabe es ist, deeskalierend auf hitzige Online-Debatten einzuwirken. "Kommunikation ist wichtig, um Toleranz und gegenseitiges Verständnis zu fördern, und soziale Medien sind ein ideales Instrument dafür", sagte Ali Anan, Leiter des Foundation-Projekts in Beirut, der DW am Telefon.
Die ganze Bandbreite
Das vom norwegischen Außenministerium finanzierte Projekt im Wert von 250.000 Euro hätte eigentlich im August 2020 beginnen sollen. Doch wegen der verheerenden Explosion im Hafen von Beirut musste es verschoben werden. "Alles und jeder war mit den Folgen der Explosion beschäftigt, so dass wir das Projekt tatsächlich erst Anfang 2021 begonnen haben", erklärt Anan.
Die Influencer repräsentieren im Groben das gesamte Spektrum der libanesischen Bevölkerung, die sich überwiegend aus muslimischen Schiiten und Sunniten sowie verschiedenen christlichen Konfessionen, aber auch Drusen sowie weiteren, eher kleineren Konfessionen zusammensetzt.
Politisch vertreten und damit in irgendeiner Form Teil des nationalen Diskurses ist ebenfalls eine beachtliche Bandbreite an Kräften - von der iranisch unterstützten schiitischen Hisbollah über sunnitisch geprägte Parteien, die traditionell von Regierungen aus der Golfregion und dem Westen unterstützt werden, bis hin politischen Strömungen aus dem Umfeld der Muslimbruderschaft, unterschiedlichen christlichen Parteien, aber auch zahlreiche Interessengruppen aus der Zivilgesellschaft - von Frauenverbänden bis zu LGBT-Lobbyorganisationen.
"Wir haben einige muslimische Influencer aus einem früheren Projektübernommen, das sich ausschließlich religiösen Fragen gewidmet hatte. Die übrigen haben wir nach Anzahl ihrer Follower, ihren Ansichten und ihrer Bereitschaft zu einer kostenlosen Mitarbeit an dem Projekt ausgewählt", so Anan. Viel Budget steckt nicht in dem Projekt. Die Finanzierung deckt lediglich Kosten, die konkret beispielsweise bei der Produktion von Videos anfallen.
Vermittlung im Netz
"Das Beste an unserem Projekt ist, dass sich unsere Influencer getroffen haben und sogar Freunde geworden sind", so Anan. Das mag sich vielleicht profan anhören, ist aber angesichts stark unterschiedlicher Positionen und vieler hoch kontroverser Streitthemen tatsächlich eine große Leistung. "Und 400.000 Follower können einem ganz schön zu Kopf steigen; wir hatten Leute, die vorher gegenseitig ihre Accounts geblockt hatten", weiß Anan.
Einer der Influencer ist Mohammad Awwad,der aus Byblos kommt und jetzt in Beirut lebt. Der 30-Jährige ist auf Facebook aktiv und hat rund 4.500 Follower.
"Ich bin Schiit und in einer Gesellschaft groß geworden, die mir beigebracht hat, die Sunniten zu hassen", sagt er der DW am Telefon. In seinen 20ern machte er Karriere bei der schiitischen Amal-Bewegung. "Aber je älter ich wurde und je mehr Menschen ich kennen lernte, desto mehr begriff ich, dass ich sinnlos mit Hass gefüttert worden war. Ich trat aus und wurde ein unabhängiger Schiit, der die Politik der beiden führenden Schiiten-Parteien Amal und Hisbollah ablehnt", berichtet er.
Als Beispiel für sein heutiges Engagement erzählt Awwad von einer Gewaltsituation südlich von Beirut Anfang August. Bei der Beerdigung eines Hisbollah-Kämpfers waren Mitglieder der Hisbollah und Angehörige lokaler Stämme aneinander geraten. "Ich habe online zwischen beiden Parteien vermittelt, um die Gewalt zu beenden", sagt er. Vor Ort griff dann die libanesische Polizei ein.
Awwad war nicht der einzige, der intervenierte, berichtet Projektleiter Anan: "Mehrere unserer Influencer, die Kontakte und Einfluss auf verschiedenen Seiten haben, halfen hinter den Kulissen bei der Vermittlung und Deeskalation der Spannungen. Sie haben damit zweifelsfrei weiteres leid und Blutvergießen verhindert."
'Nicht nur ein hübsches Gesicht'
Die libanesische Christin Mary Joe Franjieh twittert aus der nördlichen Stadt Zgharta. "Nie in meinen kühnsten Träumen hätte ich gedacht, dass ich mich mit einem muslimischen Scheich anfreunden würde", sagt die 39jährige im Gespräch mit der DW. Doch genau das sei ihr durch das Influencer-Projekt passiert.
Inzwischen hat sie ihre Meinung zu vielen Themen geändert. "Ich bin wirklich stolz, dass ich es geschafft habe, Barrieren in meinem Kopf zu überwinden", sagt sie. Franjieh appelliert an ihre Leser, "nicht alles ins Religiöse zu kehren, denn die Probleme sind politisch". Sie versteht sich selbst als Friedensstifterin und "nicht nur als hübsches Gesicht". Auf ihrem Twitter-Account mit rund 25.000 Followern setzt sie sich entsprechend für De-eskalation und friedliche Problemlösungen ein.
Beruflich arbeitet Franjieh in der Presseabteilung der christlichen Partei Marada. Deren Vorsitzender, Suleiman Franjieh jr., ist ein entfernter Verwandter von ihr.
Projekt-Leiter Ali Anan sieht keine Interessenkonflikte in den persönlichen oder beruflichen Hintergründen seiner Influencer-Gruppe. "Wir haben gar nicht erst versucht, neue Influencer nach unseren Vorlieben zu entwickeln", erklärt er und fügt hinzu: "Wichtig sind ihre Einstellung und der Ton ihrer Posts und Tweets."
Der von den Projekt-Beteiligten dort gepflegte gemäßigte und de-eskalierende Ton, glaubt er, wird auch anhalten, wenn das Projekt Ende Oktober zu Ende geht.
Dieser Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert.