"China ist für mich ein Alptraum"
18. September 2013DW: Ihr neues Buch "Die Dongdong-Tänzerin und der Sichuan Koch" ist eine Sammlung von Interviews mit Personen, die am Rand der chinesischen Gesellschaft stehen - ganz ähnlich wie das erste Buch, das von Ihnen auf deutsch erschienen ist, "Fräulein Hallo und der Bauernkaiser". Was hat sie bewogen, das fortzusetzen?
Liao Yiwu: Ich mache diese Arbeit seit vielen Jahren. Das erste Buch, das mich im Westen bekannt gemacht hat, handelte vor allem von Personen aus der Zeitgeschichte. Es gibt sehr viele alte Menschen darin. Mein neues Buch dagegen hat eine sehr große Aktualität. Es handelt von Dingen, die jetzt passieren. In beiden Büchern gibt es zum Beispiel ein Kapitel über eine Prostituierte. Aber Fräulein Hallo ist eine Prostituierte aus den 90er Jahren. Prostituierte in Bars - damals war das etwas völlig Neues. Die Prostituierte, um die es in meinem neuen Buch geht, ist anders. Sie zieht wie ein Wanderarbeiter durchs Land. Das ist ein neues Phänomen. Das begann in den nordöstlichen Bergarbeiterregionen, breitete sich zuerst nach Peking aus und erreichte dann meine Heimatregion Sichuan. Sie sind sehr mobil und man findet sie überall.
Es gibt in dem Buch Geschichten, die sind schwer zu glauben. Zum Beispiel sprechen Sie mit einem Mann, der angeblich regelmäßig in ein Restaurant geht, in dem aus abgetriebenen Embryos Suppen gekocht werden.
Dieses Thema ging vor einiger Zeit sogar durch die chinesischen Medien. Damals wurde über einen Geschäftsmann aus Taiwan berichtet, der Embryos aß und sich dabei fotografierte. Er machte aus abgetriebenen Kindern eine Delikatesse. Sie sollten ihn kräftiger und agiler machen. Auch in meinem ersten Buch schreibe ich über Menschen, die neugeborene Mädchen gegessen haben, aber das war während der großen Hungersnot, damals geschah das aus Not. Heute werden Kinder als Genuss gegessen.
Dann sind Sie sind nicht zufällig auf Ihren Gesprächspartner gestoßen ...
Ich habe selbst das Gespräch gesucht. Natürlich existierte dieses Restaurant nicht offiziell, so etwas geschieht im Verborgenen. Es war auch lange nach der Geschichte mit dem taiwanesischen Geschäftsmann. Aber jeder wusste, dass es diesen Ort gibt.
Im vergangenen Jahr haben Sie den Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhalten und eine Rede gehalten, in der Sie über China sagen: Dieses Imperium muss auseinanderbrechen...
Genau. Wenn Sie meine Bücher lesen, angefangen bei den Geschichten über die Unterschicht, über das Gefängnisbuch, das Buch über die vergessenen Opfer des Tiananmen-Massakers, dann wird doch klar, dass ein Staat, der das alles anrichtet, auseinanderbrechen muss, damit diese Führer nicht einfach so weitermachen können. Dieses China wird andernfalls einen schlechten Einfluss auf die ganze Welt ausüben. Ich denke, das Beste wäre eine Teilung des Reiches.
Dennoch legen auch Dissidenten in China oft Wert auf ihren Patriotismus. Ein Auseinanderbrechen zu fordern, ist da doch recht provokativ.
Wenn Sie sich die Geschichte ansehen, dann war China oft geteilt. Und es ist auch nicht so, dass alle Denker die Einheit des Landes gutheißen. Es gab immer viele Intellektuelle, die nicht für die Einheit waren. Das Problem ist eher, dass viele heute mit der chinesischen Geschichte nicht sehr vertraut sind.
Die chinesische Regierung diffamiert ihre Kritiker häufig als unpatriotisch. Dafür haben Sie ihr jetzt eine Vorlage geliefert.
Ich wurde sehr hart angegriffen von Regierungsmedien und von Internetnutzern, die im Dienst der Regierung stehen. Die Regierungszeitung "Global Times" hat mich in mehreren Artikeln kritisiert. Aber nach meiner Rede wurde im Internet drei Wochen lang über dieses Thema gestritten. Es gab Zustimmung und es gab Ablehnung, aber das wichtige ist, dass die Leute diskutiert haben. Selbst jemand der sagt, 'der Mann ist doch verrückt', wird vielleicht losgehen und versuchen sich Buch von mir zu besorgen. Dass die Regierung mich so hart angegangen ist, ist auch eine Werbung für mich. Mein Bruder und meine Mutter zum Beispiel haben dadurch einiges über meine jetzige Situation erfahren.
Im vergangenen Jahr haben chinesische Schriftsteller im Westen viel Aufmerksamkeit bekommen. Sie selbst haben den Friedenspreis des deutschen Buchhandels bekommen. Mo Yan hat den Literaturnobelpreis bekommen. Sie haben ihn hart kritisiert. Aber glauben Sie nicht, dass es positiv ist, dass das Interesse an China wächst?
Ich war sehr glücklich über den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Das ist ein demokratischer Preis. Die Auswahlprozedur ist transparent. Der Börsenverein des deutschen Buchhandels wählt in demokratischer Wahl die Preisträger. Aber der Literaturnobelpreis wird nicht demokratisch vergeben. Wie das Nobelkomitee zu seinen Entscheidungen kommt, ist völlig intransparent. Ich möchte auch nicht mit jemandem wie Mo Yan verglichen werden. Er ist ein Beamter der Kommunistischen Partei. Wann immer er öffentlich auftritt, stellt er sich auf die Seite der Diktatur. Deshalb ist meine Kritik etwas ganz Natürliches.
Es gibt viele Schriftsteller, die im offiziellen Schriftstellerverband sitzen und deren Bücher trotzdem verboten werden. Yu Huas zum Beispiel. Sein "China in zehn Worten" wurde verboten, aber Mitglied im Schriftstellerverband ist er trotzdem. Gibt es ihrer Meinung nach keinen Mittelweg?
Natürlich gibt es einen Mittelweg. Es gibt Autoren, die die chinesische Wirklichkeit kritisieren aber sich politisch zurückhalten. Sie stellen sich immerhin nicht auf die Seite der Diktatur. Aber Mo Yan übertreibt. Er steht auf der Seite der Diktatur. Er bezeichnet Mao Zedong als eine große historische Figur, er ist ein Vertreter der Kultur der Diktatur. Ich weiß nicht, was Schweden damit bezweckt hat, dass sie ihm den Preis gegeben haben.
Haben Sie Hoffnung, eines Tages nach China zurückzukehren?
Ich hoffe, eines Tages in meine Heimatregion Sichuan zurückzukehren. China ist für mich ein Alptraum.
Der 1958 geborene Liao Yiwu gehört seit den 80er Jahren zu den bekanntesten Lyrikern Chinas. Von 1990 bis 1994 war er wegen eines kritischen Gedichts inhaftiert. In seinem Buch "Für ein Lied und hundert Lieder. Ein Zeugenbericht aus chinesischen Gefängnissen" beschreibt Liao seinen Leidensweg. Für das Werk erhielt er den Münchner Geschwister-Scholl-Preis (2011), außerdem wurde er mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (2012) ausgezeichnet. Seit 2011 lebt er in Deutschland im Exil.
Das Gespräch führte Mathias Bölinger