LGBTQ in Afghanistan: Todesangst vor den Taliban
2. Oktober 2021Wochenlang lebt Danish im Halbdunkel. Seit dem Einmarsch der Taliban Mitte August versteckt er sich im fensterlosen Hinterraum eines Geschäfts in Kabul, das einem Freund gehört und jetzt geschlossen hat.
Nach draußen traut er sich nicht mehr.
Danish ist Transgender. Unter den Taliban droht Menschen wie ihm die Todesstrafe. Danish wuchs als Mädchen auf. Seit er 13 Jahre alt ist, weiß er, dass er im falschen Körper steckt. Einem Körper, den er "hasst". Auf Fotos, die er schickt, trägt er betont männliche Kleidung. Die Haare sind kurz.
Danish schlägt die Zeit tot. "Ich tue nichts, außer zu atmen." Nachts nimmt er Schlaftabletten gegen das Grübeln. "Mein Verstand ist wie gelähmt, ich werde verrückt vor lauter Gedanken." Am liebsten, so schreibt er, würde er am Meer stehen und einfach nur schreien, bis die Kehle wund ist.
Kontakt zur Außenwelt hat Danish nur über sein Handy - zu ganz wenigen Menschen. Sein engster Vertrauter ist Khalid. Ein guter Freund, der schwul ist und Mitte 20, wie er selbst. Mit beiden steht die Deutsche Welle seit Anfang September über einen verschlüsselten Messengerdienst täglich in Kontakt. Ihre Namen haben wir aus Sicherheitsgründen geändert.
Schläge mit dem Plastikrohr
Khalid hat vorgesorgt. Während die Taliban auf Kabul vorrücken, tauscht er Jeans und Kapuzenjacke gegen traditionelle afghanische Kleidung aus. Sogar einen Bart lässt er sich wachsen. Nur, um nicht aufzufallen.
Er sei ein femininer Typ, sagt er. Und er weiß, dass allein das ihm gefährlich werden kann.
Am 15. August, dem Tag, an dem die Islamisten in Kabul einmarschieren, verlässt er sein Zimmer, um Besorgungen zu machen. Er denkt, er sei gut vorbereitet. Doch seine Vorsichtsmaßnahmen reichen nicht aus.
Mitten auf der Straße spürt er plötzlich einen dumpfen Schmerz an der rechten Schulter. "Hinter mir war ein Talib, ich hatte ihn nicht kommen sehen." Mit einem massiven Plastikrohr habe er ihn geschlagen. "Mir schossen vor Schmerzen Tränen in die Augen." Der Talib habe ihn angeschnauzt. "Warum hast du so einen weiblichen Gang? Weißt du nicht, wie man richtig läuft?"
Seitdem bleibt auch Khalid zu Hause.
Die Strafen der Taliban
Unter den Taliban müssen LGBTQ-Personen wie Khalid und Danish in Afghanistan um ihr Leben fürchten. Für einen Mann, der Sex mit einem anderen Mann hat, gebe es nur zwei mögliche Strafen, erklärte wenige Wochen vor der Machtübernahme ein Taliban-Richter in einem Interview mit der deutschen Tageszeitung Bild: "Entweder Steinigung oder er muss hinter einer Mauer stehen, die auf ihn fällt. Die Mauer muss zweieinhalb bis drei Meter hoch sein."
Ende September dann sagte Mullah Nooruddin Turabi, ein hochrangiges Gründungsmitglied der Taliban,der Nachrichtenagentur AP, die Regierung werde wieder Exekutionen und Hand-Amputationen einführen. So wie schon in den 1990er Jahren. In der damaligen Taliban-Führung war Turabi Justizminister. Nach Darstellung eines australischen Regierungsberichts sollen zwischen 1996 und dem Sturz der Taliban im Herbst 2001 regelmäßig Homosexuelle hingerichtet worden sein.
Diskriminierung und Gewalt
Von der Todesstrafe bedroht waren LGBTQ-Personen unter den danach folgenden Präsidenten Hamid Karzai und Ashraf Ghani zwar nicht mehr. Aber: Laut afghanischem Strafgesetz blieben sexuelle Beziehungen außerhalb der Ehe zwischen Mann und Frau grundsätzlich verboten und strafbar. 2018 wurde ein neues Gesetz unter Präsident Ghani verabschiedet. Danach stand auf homosexuelle körperliche Beziehungen eine Gefängnisstrafe von bis zu zwei Jahren.
Auch Alltagsdiskriminierung ist allgegenwärtig, genauso wie Gewalt. Das haben sowohl Danish als auch Khalid am eigenen Leib erfahren. Beide wurden von ihren Familien aufgrund ihrer sexuellen Identität windelweich geprügelt und verstoßen. Beide haben nur wenige Menschen, denen sie vertrauen.
Dating unter falschem Namen
Eine offen queere Community gebe es in Kabul gar nicht, erklärt Khalid im Telefongespräch über den verschlüsselten Messengerdienst. Alles finde aus Sicherheitsgründen im Verborgenen statt. Dating funktioniere vor allem über eine bestimmte App. Jeder sei dort unter falschem Namen und mit falschem Foto unterwegs, beispielsweise als Hollywood-Schauspieler Tom Cruise.
Ob er schon einmal in einer Beziehung war? Khalid fängt bei dieser Frage kurz an zu lachen. Nein, sagt er dann, bisher nur unverbindliche Geschichten. "Kennst du den Begriff 'friends with benefits'? Gute Freunde und manchmal ein bisschen mehr."
Schikanen im Alltag
Schiefe Blicke, Kommentare, Beschimpfungen: Dinge, die Khalid immer wieder erlebt hat, wenn er auf den Straßen Kabuls unterwegs war.
Khalid ist gebildet, er hat ein abgeschlossenes Wirtschafts-Studium. Aber einen Job fand er trotzdem nicht. Immer wieder, schildert er der DW, sei er zu Vorstellungsgesprächen eingeladen worden. Er habe alle nötigen Qualifikationen mitgebracht. Aber darum sei es letztlich überhaupt nicht gegangen.
"Meine Gesprächspartner haben sich gar nicht dafür interessiert, was ich an Erfahrungen mitbringe." Sie hätten praktisch keine fachlichen Fragen gestellt. "Sie haben mich nur verspottet und mich ausgelacht." Khalid ist davon überzeugt, dass sein feminines Aussehen der Grund dafür war.
Kein Lebensmut mehr
Mitte September.
Khalid macht sich Sorgen um Danish. Dem Freund scheint es psychisch immer schlechter zu gehen.
Die Einsamkeit, die Dunkelheit, die Ungewissheit und die ständige Todesangst nagen zunehmend an dem Transmann. Seit 36 Tagen hat er zu diesem Zeitpunkt keinen Menschen mehr persönlich gesehen, sich nur von Wasser und trockenen Keksen ernährt.
Danish schickt Fotos von sich.
Tätowierungen zieren Arme, Hände und Hals. Vor etwa drei Jahren ließ er sich das erste Tattoo stechen. Auch ein Tabu in der konservativen afghanischen Gesellschaft, erklärt er. Und unter den Taliban streng verboten.
Ein Tattoo zeigt den Kosenamen der Frau, die er liebt. Zwei Jahre war er heimlich mit ihr zusammen, sie seien glücklich gewesen. Dann flog die Beziehung auf. Als ihre Eltern davon Wind bekamen, dass die Tochter mit einem Transmann zusammen war, wurde sie mit einem anderen Mann zwangsverheiratet. Seit einem Jahr hat er nichts mehr von ihr gehört.
Auf anderen Fotos sind Hämatome zu sehen: an Oberarmen, Rücken und Oberschenkeln. Rot-violette Striemen, Blutergüsse, bestimmt 20 Zentimeter lang. "Das war mein Vater." Nach dem Tag, an dem er so zugerichtet wurde, sei er nie wieder bei seiner Familie gewesen.
Plötzliche Wende
Der Ton von Danishs Nachrichten ist oft verzweifelt. Er wünsche sich, dass einfach nur alles vorbei sei, schreibt er. Er hat keine Kraft mehr für Optimismus.
Doch dann - Ende September - geht auf einmal alles ganz schnell.
Danish und Khalid haben es auf Evakuierungslisten ausländischer NGOs geschafft, die sich speziell um LGBTQ-Personen in Not kümmern. Am 25. September, 41 Tage nach der Machtübernahme der Taliban, besteigen die Freunde eine Maschine der Pakistan International Airlines, die sie nach Islamabad bringt.
"Ich fühle mich wie ein Vogel. Ich muss nur noch meine Flügel ausbreiten und losfliegen", so beschreibt Khalid in einer Sprachmitteilung seine Gefühle in diesem Moment.
Zukunftsträume
In Pakistan sind Danish und Khalid jetzt in Safe Houses untergebracht. Dort bleiben sie, bis ihre Dokumente überprüft sind und sie ihre Anträge für Drittstaaten ausfüllen können.
Danish möchte am liebsten in die USA. Sein Traum ist es, Musik zu machen. "Ich wünsche mir, eines Tages mitten in New York ein Konzert geben zu können und vor einer Menschenmenge zu singen."
Khalid würde gern nach Kanada gehen. Schwule Bekannte haben ihm erzählt, dass die LGBTQ-Community dort respektvoll behandelt werde und jeder in Würde leben könne.
Einen kleinen Wunsch hat Khalid sich schon erfüllt. Er hat sich die Fingernägel lackiert. Gelb, orange, pink und blau. Nagellack macht ihn glücklich. Jetzt traut er sich nach langer Zeit wieder, welchen zu tragen. Als er in Islamabad die bunten Fläschchen in einem Geschäft sah, habe er sofort zugegriffen: "Da konnte ich einfach nicht widerstehen."