Letzter Schritt zur afghanischen Demokratie
15. September 2005Die Wahlen für die "Wolesi Djirgah", die erste Kammer des Parlaments sind für das von bewaffneten Auseinandersetzungen geplagte Land von großer politischer Bedeutung: Durch sie wird zum ersten Mal eine Legislative als die dritte Gewalt eines demokratischen afghanischen Staates geschaffen.
Der im Oktober 2004 demokratisch gewählte Präsident Hamid Karsai regiert und verwaltet das Land seit der Bildung der Interimsverwaltung im Dezember 2001 de facto eigenmächtig. Das macht einerseits die zersplitterte Opposition im Lande zunehmend unzufriedener. Andererseits ist auch die internationale Gemeinschaft brennend daran interessiert, das Provisorium des "Islamischen Staates Afghanistan" endgültig für beendet erklären zu können.
Parlament als Ventil
Die Opposition benötigt endlich ein parlamentarisches Ventil, um ihre Kritik an der Regierung und ihre Anregungen zum gesellschaftspolitischen Aufbau des Landes wirksam anbringen zu können. Das Bild der Opposition ist dabei erstaunlich facettenreich: Inzwischen sind fast 80 politische Gruppierungen entstanden, die offiziell den Status politischer Parteien genießen. Das Spektrum dieser Kräfte reicht von den ehemals kommunistisch orientierten über demokratisch konzipierte bis hin zu streng religiös geprägten Kräften.
Das Dilemma besteht jedoch darin, das nicht politische Parteien, sondern einzelne Personen als Kandidaten zugelassen sind. Das erleichtert zwar die Entscheidung der Wähler, den gewünschten Kandidaten mit den entsprechenden Symbolen in der vier- bis sechsseitigen Wahlbroschüre zu finden. Es erschwert aber den Parteien den Zugang zu potenziellen Wählern, die über Stammesloyalität oder Religionszugehörigkeit hinaus auf die "nationale Identität" setzen.
68 Sitze für Frauen
Um die 249 Sitze der "Wolesi Djirga" - darunter 68, die für Frauen reserviert sind - kämpfen nun etwa 2.700 Kandidaten aller politischen Schattierungen und aus allen gesellschaftlichen Schichten und Volkstämmen des Landes. Mit den ersten demokratischen Präsidentschaftswahlen am Hindukusch wurde im vergangenen Jahr zum ersten Mal offiziell dokumentiert, dass in Afghanistan die Stammesloyalität nach wie vor von erstrangiger Bedeutung ist.
Qamar Wakili, ehemalige Vizeministerin für Arbeit und Soziales, erkennt zwar die Schwierigkeiten an, die vom Prinzip der Stammeszugehörigkeit her resultieren, glaubt aber fest daran, diesbezügliche Hemmnisse überwinden zu können. "Im Vergleich zur Präsidentschaftswahl hat das Gefühl der Stammeszugehörigkeit zugenommen“, sagt Wakili, die über zehn Jahre als politische Emigrantin in Deutschland gelebt hat, im Interview mit der Deutschen Welle. "Meine Parole lautet daher: Nationale Einheit und soziale Gerechtigkeit. Diskriminierungen sprachlicher, Stammes-bezogener, regionaler und rassistischer Prägung haben Afghanistan einen großen Schaden zugefügt."
Gefahr durch Taliban
Eine große Gefahr für einen reibungslosen Wahlvorgang geht noch immer von den Taliban-Milizen aus, die die Wahlen sabotieren wollen. Paradoxerweise haben sich einige der hochrangigen Kader der Taliban auf die Wahllisten setzen lassen. Dies hat bei manchen Gruppen und Parteien zu heftigen Protesten geführt.
Für die Sicherheit der Bürger und der Kandidaten und für einen reibungslosen Wahlgang sind neben den rund 40.000 einheimischen 30.000 internationale Sicherheitskräfte verantwortlich. Trotz umfassender Sicherheitsvorkehrungen sind von den mehr als 2.700 Parlamentskandidaten bisher sechs durch gezielte Angriffe der bewaffneten Opposition ums Leben gekommen. Eine Bedrohung stellen auch immer noch die früheren regionalen Kriegsfürsten dar, obwohl sie sich auf die Spielregeln des neuen Afghanistan eingelassen haben und in die Entscheidungen der Zentralregierung eingebunden sind. Aus ihren Reihen gibt es ernst zu nehmende Drohungen vor allem gegen weibliche Kandidaten.
Hohe Wahlbeteiligung
Internationale Wahlbeobachter, darunter eine EU-Delegation, sind schon seit langem im Lande. Die Aufgabe der EU-Wahlkommission, so Emma Bonini, die Chefin der EU-Wahlbeobachtung, soll darin bestehen, das Vertrauen in den Wahlprozess und in die Auszählung zu stärken. Die Wahlbeteiligung bei der Präsidentschaftswahl im Oktober 2004 lag bei mehr als 80 Prozent. Politische Beobachter gehen auch für dieses Mal von einer sehr hohen Wahlbeteiligung aus.