Über die Hintergründe der Proteste in Georgien
9. April 2009DW-WORLD.DE: Nach dem Kaukasus-Krieg im vergangenen Sommer schien es aus der Außenperspektive verhältnismäßig ruhig in Georgien. Wie kommt es jetzt zu dieser Massenveranstaltung der Opposition?
Iris Kempe: Aus der Innenperspektive ist das Land seit dem georgisch-russischen Krieg im August 2008 nie richtig zur Ruhe gekommen. Die russischen Truppen sind nach wie vor in Abchasien und Südossetien und das wird nach wie vor als eine permanente Kriegsdrohung angesehen. Außerdem gibt es zahlreiche innenpolitische Probleme in Kern-Georgien und eine immer weiter steigende Unzufriedenheit mit Präsident Saakaschwili.
Und jetzt will die Opposition Nägel mit Köpfen machen und ihn loswerden?
Jetzt fordert die Opposition den Rücktritt, aber das ist eine Forderung, die sehr typisch für den Kaukasus ist. Man ist gegen etwas, man kritisiert etwas, aber es gibt keine neuen substanziellen Konzepte.
Die Opposition hat angekündigt, sie wolle so lange demonstrieren, bis Saakaschwili zurücktritt. Gibt es denn personelle Alternativen?
Es gibt Alternativen, aber all diese Alternativen sind keine Personen wie Vaclav Havel oder Lech Walesa, die die breiten Massen mit einer begeisternden Idee hinter sich sammeln können. Von daher sind Alternativen schwach entwickelt, auch konzeptionell. Viele Parteien sind Personenparteien, aber die Personen sind auch wieder schwach. Es gibt also nur schwach profilierte Alternativen.
Wenn man aus der Perspektive der Bürger spricht: Wie wirkt sich der Krieg aus dem vergangenen Jahr auf die Stimmung der Menschen aus?
Die Stimmung ist extrem schlecht, die Menschen sind traumatisiert. Es gibt diese permanente latente Kriegsangst. Es gibt ja auch immer wieder Zwischenfälle, immer wieder Morde in der Konfliktregion. Ein wahnsinniges Problem sind auch die Flüchtlinge aus den Kriegsregionen. Die sind überall präsent, auch in Tiflis und um die Stadt herum. Sie sind in Flüchtlingssiedlungen angesiedelt worden.
Präsident Saakaschwili ist eigentlich bis 2013 gewählt. Kann man dem Land in der momentanen Lage überhaupt einen Umsturz wünschen?
Nein, dem Land kann man keinen politischen Umsturz wünschen. Was dem Land zu wünschen wäre, wäre ein Personalwechsel unter normalen demokratischen Bedingungen. Das Land befindet sich im Transformationsprozess und ist schon erste Schritte gegangen –auch unter der Leitung von Saakaschwili. Es hat sich jetzt ein Stück weit selbst blockiert und ist auch von Russland blockiert worden. Georgien müsste die Demokratie festigen und die internationalen Kooperationen, vor allem die mit Europa, stärken, um sich zu stabilisieren. Aber erneute Einbrüche sind dem Land auf keinen Fall zu wünschen.
Die Europäer beobachten die Lage in Georgien nicht nur deshalb besonders kritisch, weil Ölpipelines vom Kaspischen Meer durch das Land führen, sondern auch, weil sie wissen möchten, ob sich Georgien eine echte West-Perspektive erarbeiten kann. Wie sehen Sie das?
Georgien könnte sich eine West-Perspektive erarbeiten, aber es fehlen die konkreten Schritte. Der russisch-georgische Krieg hat Europa erschüttert und Europa ist nur begrenzt handlungsfähig. Es kann Georgien und dem Kaukasus keine wirklich attraktive Strategie anbieten. Es ist eine sehr vage Situation, in der man mehr von Herausforderungen als von konkreten Angeboten sprechen kann. Aber die Alternative wäre eine Kooperation mit Russland und damit auch eine Dominanz von Russland. Umso mehr sich Georgien als demokratisches europäisches Land etablieren wird – und das ist in erster Linie die Aufgabe der Georgier -, desto stärker wird es sich an Europa annähern können und desto besser sehe ich auch die Zukunftsaussichten für eine erfolgreiche Entwicklung des Landes.