Jemen: der Fluch der Landminen
10. September 2022Die schlimmste Gewalt hat der Jemen hoffentlich hinter sich. Der im Frühjahr ausgehandelte Waffenstillstand wird zwar immer wieder punktuell gebrochen, doch insgesamt ist die Gewalt der vergangenen Jahre deutlich zurückgegangen, auch wenn der Konflikt weiter ungelöst bleibt.Im April war die vereinbarte Waffenruhe zwischen den Huthi-Rebellen und der von Saudi-Arabien vertretenen internationalen Militärkoalition in Kraft getreten, seitdem wurde sie zweimal verlängert, zuletzt im August. Millionen notleidender Menschen - die Jemeniten sind zudem von einer enormen Hungersnot bedroht oder bereits betroffen - verschafft die Vereinbarung zumindest eine kleine Atempause.
Dennoch müssen viele Menschen weiter um ihr Leben und ihre körperliche Unversehrtheit fürchten. Denn weite Teile des Jemen wurden im Zuge des Krieges regelrecht in ein Minenfeld verwandelt. In vielen Regionen müssen Jemeniten befürchten, auf eine der zahllosen im Land verteilten Landminen zu treten. Viele Menschen wurden auf diese Weise bereits getötet oder mussten sich als Folge einer Explosion Gliedmaßen amputieren lassen. Da die Explosivstoffe bislang kaum geräumt wurden, müssen viele Menschen noch über Jahre hinweg damit rechnen, ohne Vorwarnung auf eine der hinterhältigen Waffen zu treten.
Gezeichnet für immer
Nachdem er sein Haus im Gouvernement Hudaida im Westen des Landes Anfang 2018 aufgrund des Kriegeszusammen mit seiner Familie hatte verlassen müssen, kehrte Muhammad Zuhair vor einigen Monaten wieder dorthin zurück. Die Sicherheitsbedingungen in der Region hatten sich verbessert, ein ziviles Leben schien wieder möglich.
Doch auf dem Weg dorthin überfuhr der 45-jährige Familienvater kurz vor seinem Heimatdorf eine Mine, die an der Eingangsstraße zu seinem Dorf versteckt war. Mit schweren Verletzungen an den Füßen wurde er in eine Krankenstation gebracht. Als er nach der Operation wieder aufwachte, musste er feststellen, dass er nur noch ein Bein hatte. Das andere hatten die Ärzte ihm abgenommen, so Zuhair im DW-Gespräch.
"Ich kann es kaum ertragen"
Ein ähnliches Schicksal hat Dalilah erlitten. Die 33-jährige lebt in der Großstadt Tais im Südwesten des Landes. Sie hat beide Beine verloren. Jetzt müht sie sich, mithilfe der kürzlich erhaltenen Prothesen zu gehen. Gut fünf Jahre ist es jetzt her, dass sie auf eine Mine trat - genau einen Tag vor ihrer Hochzeit. Mit ihr wurden drei weitere Frauen aus ihrer Familie verstümmelt.
Der Unfall raubte ihr nicht nur die Beine - er brachte sie auch finanziell in Bedrängnis. Vor der Hochzeit hatte ihre Familie sich Geld geliehen, um es als so genanntes Brautgeld an die Familie des Bräutigams zu überweisen. Doch der wollte die Braut nach deren Unfall nicht mehr heiraten. Das Geld aber behielt er. So stand Dalilahs Familie nun mit Schulden da, die sie nun aus eigener Kraft zurückzahlen musste.
"Ich kann es kaum ertragen, mich ohne Beine auf Prothesen bewegen zu müssen", sagt Dalilah im Gespräch mit der DW. Dankbar ist sie der Organisation "Ärzte ohne Grenzen" für die Gehhilfen, die sie über eine Krankenstation erhielt - auch wenn diese nicht in allerbestem Zustand sind und immer wieder repariert werden müssen. Trotz ihrer Behinderung arbeitet sie als Straßenverkäuferin - das bringt zumindest etwas Geld ein.
UN-Beauftragter in Sorge
Im Jemen haben sich in den vergangenen Jahren weite Gebiete in regelrechte Minenfelder verwandelt, insbesondere dort, wo sich feindliche Truppen unmittelbar gegenüberstanden. Diese Gebiete stellen für Zivilisten nach Unterbrechung der Kämpfe die größte Gefahr dar.
Der UN-Sondergesandte für den Jemen, Hans Grundberg, erklärte im Juli vor dem UN-Sicherheitsrat, seit Ende der Kämpfe seien zwei Drittel weniger Verletzte registriert worden. Stattdessen gingen nun aber zahlreiche Personenschäden auf Landminen und Blindgänger zurück, so der Diplomat.
Hunderte Todesopfer
Bislang haben die jemenitischen Behörden noch keine Statistiken zu den Zahlen der von Landminen verletzten oder getöteten Personen veröffentlicht. Schätzungen gehen aber von einer hohen Zahl von Toten und Verletzten aus.
So erklärte Faris Al-Hamiri, Leiter der jemenitischen Beobachtungs- und Dokumentationsstelle für Minen und Blindgänger, gegenüber der DW, seine Organisation habe von Mitte 2019 bis Anfang August 2022 insgesamt 426 Todesopfer registriert, darunter mehr als 100 Kinder und 22 Frauen. Auch mehr als 560 Verletzte registriert, auch hier lag der Anteil von Kindern (216) und Frauen (48) hoch. Viele der Verletzten tragen dauerhafte Behinderungen davon.
Verschärft hat sich das Problem der Minen durch die starken Regenfälle und Überschwemmungen der vergangenen Wochen. Das Wasser hat nicht nur die Häuser insbesondere armer Jemeniten zerstört. Es hat zugleich Minen an bislang noch nicht kontaminierte Orte gespült. Es werde große Anstrengungen erfordern, diese zu räumen, warnt der Direktor des jemenitischen Minenschutzprogramms, Amin al-Aqili. Die Arbeiten, befürchtet er, dürften sich über Jahrzehnte hinziehen.
Aus dem Arabischen adaptiert von Kersten Knipp.