"Muslime sind Deutsche"
11. Juli 2017DW: Ihre Organisation bringt Muslime zusammen, die eine moderne Form der Religion leben wollen. Was genau ist liberaler Islam im Vergleich zu konservativem Islam?
Lamya Kaddor: Wenn Sie Schriften auslegen und interpretieren wollen, können Sie natürlich versuchen, die Schriften wortwörtlich auszulegen. Dann sind Sie Fundamentalist.
Sie können versuchen, das Gemeinte in die heutige Zeit zu übertragen - vor allen Dingen den Verstand als Mittel einzusetzen: Was macht Sinn, was ist logisch, was lässt sich überhaupt ins Heute übertragen? Dann sind Sie eher liberal.
Oder Sie sagen: Ich möchte einige Traditionen in die heutige Zeit bringen, aber bestimmte Werte sind immer noch für mich sehr wichtig. Auch wenn ich sie theoretisch durch den Verstand weiterentwickeln müsste, halte ich mich daran, bin also eher Traditionalist. Das ist dann eher konservativ.
Wie ist die Botschaft des Liberal-Islamischen Bundes vom modernen, erneuerten Islam aufgenommen worden?
Die Resonanz ist positiv. Das ist gut angekommen. Aber es gibt natürlich noch sehr viel Arbeit. Die meisten Muslime kennen uns nicht. Die meisten Muslime tun sich schwer damit, sich überhaupt einem Verein oder einer Organisation anzuschliessen. Denn im Grunde genommen besteht die Beziehung zwischen mir und Gott und kann nicht organisiert werden.
Es widerspricht dem eigentlichen Sinn des Lebens als Muslim, sich irgendeiner Gruppe anzuschliessen.
Wie ist Ihre Botschaft bei konservativen Muslimen angekommen?
Ich fordere nicht nur Dinge, die uns als liberalen Muslimen zu Gute kommen. Das möchte ich nochmal deutlich sagen. Das ist auch das, was viele konservative Muslime nicht verstehen oder verstehen wollen. Wenn ich sage: Ich finde es in Ordnung, wenn Frauen mit Kopftuch unterrichten dürfen, dann meine ich sicher nicht mich. Ich trage kein Kopftuch.
Und wenn ich fordere, dass islamischer Religionsunterricht allgemein eingeführt werden muss, dann spreche ich nicht für die Liberalen alleine. Wenn ich sonst Belange von Muslimen irgendwie erkläre oder politisch postuliere, ist das nicht die liberale Perspektive des Islams, sondern meistens die konservative.
Das heißt, die Vorwürfe, die mir Konservative gerne machen, ich würde nur mein eigenes Islamverständnis vertreten, ist völlig falsch. Ich kriege dauernd Ärger und Morddrohungen dafür, dass ich eher auch das konservative Islamverständnis mit vertrete.
Wie begründen Sie Ihre Forderung, dass Lehrerinnen in Deutschland das Tragen eines Kopftuchs erlaubt sein sollte?
In Deutschland herrscht Religionsfreiheit. Wir sind uns nicht darüber einig, ob ein Kopftuch als klassisches religiöses Symbol angesehen werden kann oder als Teil des eigenen Bekenntnisses. Für mich ist es Teil des eigenen Bekenntnisses und kein bloßes religiöses Symbol, was man auf dem Kopf trägt - und mehr nicht.
Muslime sind Deutsche. Sie haben sich genauso dem Grundgesetz zu unterwerfen wie jeder andere Deutsche in diesem Land. Und deshalb glaube ich nach 14 Jahren Schulerfahrung als Lehrerin, dass es falsch wäre, Frauen mit Kopftuch den Zugang zum Unterricht zu untersagen. Wenn wir da anfangen, ist die Frage: Wo machen wir dann weiter? Und wo hören wir denn eigentlich auf?
In der deutschen Öffentlichkeit ist der Islam oft Thema einer hitzigen Debatte. Was halten Sie von dieser Debatte und der Kritik an Muslimen?
Mann kann keine Pauschalkritik über den Islam verfassen und wie er hier ausgelebt wird. Wer das versucht, der ignoriert die Differenzen und unterschiedlichen Strömungen und letztlich auch den ganz eigenen biografisch-subjektiven Zugang zum Glauben. Ich kann nicht pauschal sagen: Alle Muslime sind dies oder das. Das ist absurd.
Aber worunter wir doch auch als Muslime zu leiden haben ist die Vermischung zwischen Islam und Islamismus. Einerseits durch die Islamisten, die ja versuchen, gerade das zu tun, und andererseits durch Nichtmuslime, vielleicht auch Islamfeinde, die diese Vermischung gerne annehmen. Sie verwenden diese, um Stimmung gegen Muslime zu machen. Es ist also sehr schwierig, sich in diesen Zeiten sowohl gegen das eine Extrem als auch gegen das andere Extrem abzugrenzen.
Das Bild in Deutschland ist aber geprägt durch den zunehmenden Islamismus. Warum radikalisieren sich insbesondere junge Muslime?
Der Hauptanreiz für eine Radikalisierung ist sicherlich nicht die Religion. Am Anfang steht nicht die Religion. Am Anfang stehen ganz normale soziale Bedürfnisse: gemeinsames Zusammensitzen, Hausaufgabenbetreuung, gemeinsames Sportangebot, Mädchenrunden... Der Anschluss an eine Gruppe, Orientierung, der Gemeinschaftswert. Ich werde endlich wahrgenommen als Jugendlicher, ich bin als Subjekt endlich jemand, was ich zuhause vielleicht gar nicht bin. Ich suche nach einer Gruppe, die mich wahrnimmt als junger Mensch - in einer Welt, die zunehmend kompliziert wird.
Die Globalisierung wird nicht aufgehalten, der digitale Fortschritt - ich glaube, das sind schon Dinge, die uns alle beschäftigen. Ich glaube, junge Leute haben darunter viel mehr zu leiden - gerade in der Pubertät, wenn sie sich fragen: Wer bin ich und wer will ich sein?
Angenommen, ein junger Muslim sagt: Ich will ein moderner Deutscher sein. Es wird ihm - ich will nicht sagen unmöglich gemacht in der deutschen Gesellschaft - aber es wird ihm sehr viel schwerer gemacht, das zu sein. Natürlich gucken sie nach rechts und links und schauen, ob es da Angebote gibt von jemand anderem, der sagt, wir nehmen dich sofort an wie du bist. Du musst dich für uns nicht verändern. Da hört man natürlich hin.
Was setzt man der Radikalisierung am besten entgegen?
Ich halte es für falsch, wenn Moscheen diese Jugendliche ausschließen, die sich radikalisiert haben. Damit haben wir das Problem nicht gelöst, wir haben es von uns weggeschoben. Was wir aber machen müssen, wäre vielleicht auch, dass wir innerislamisch viel stärker Attentäter oder Terroristen gesellschaftlich ächten - also den Menschen erklären: Wer unschuldige Menschen einfach wahllos tötet, der kann kein Muslim sein. Auf dem Papier mag er Muslim sein, und vielleicht sieht ihn Gott auch noch als Muslim. Aber das ist nicht unser Problem.
Innerhalb der Gemeinde müssen wir uns auf eine eindeutige Haltung einigen: Wenn ein junger Mensch damit liebäugelt, sich dem Islamismus anzuschließen, dann muss er wissen, er steht nicht mehr mitten in der muslimischen Community.
Das ist ein sehr wichtiger Prozess aber er wird noch nicht ausreichend vorgenommen.
Verändert der Islam Deutschland?
Deutschland wird bunter durch den Islam. Auch wenn man das vielleicht als absurd bezeichnen würde, glaube ich schon, dass Muslime Werte vertreten, die unserer Gesellschaft auch gut tun können. Menschlichkeit und Nächstenliebe sind nicht nur christliche Werte. Es sind auch islamische Werte. Demut vor der Schöpfung - das sind Dinge, die Muslime ziemlich erst nehmen. Ich glaube schon, dass der Islam zwar Deutschland nicht verändert, aber dass wir uns alle hier zusammen zumindest unter diesen Werten zusammenfinden können.
Dazu können und müssen wir Muslime unseren Beitrag leisten. Das müssen wir genauso wie die anderen Religionsgemeinschaften auch. Letztlich ist das für mich ein Zeichen, dass wir vielfältiger und bunter werden. Unser Grundgesetz - und das ist die große Herausforderung in der Demokratie - versucht, jedes Individuum anzuerkennen und jedem zu helfen, sein Recht zu bekommen. Dafür steht für mich der Islam, aber auch Deutschland.
Lamya Kaddor ist eine der führenden Islamwissenschaftlerinnen in Deutschland. Sie hat mehrere Bücher zum Thema veröffentlicht und 2010 den Liberal-Islamischen Bund mitgegründet. Kaddor war an der Umsetzung des ersten Islamkunde-Projekts an öffentlichen Schulen in Nordrhein-Westfalen beteiligt. Ihre liberale Auslegung des Islam stößt auf heftige Kritik innerhalb und ihre Verteidigung konservativer Auslegungsmöglichkeiten des Islam außerhalb der muslimischen Gemeinde. Nachdem sie Morddrohungen erhalten hatte, musste sie das Unterrichten aufgeben. Nina Haase und Sumi Somaskanda trafen sie in Köln.