Kühnert und der politische Karneval
9. Februar 2018Er will über Politik reden. Über den Koalitionsvertrag, den seine Partei, die SPD, mit CDU und CSU ausgehandelt hat. Was Kevin Kühnert, der Vorsitzende der SPD-Jugendorganisation Jusos gar nicht will, ist über Personalien sprechen. "Politischen Karneval" nennt er das Feilschen um Posten und Personalien, um die Frage "Wer wird was in der neuen Regierung?", die seit Mittwoch dieser Woche die Debatte über eine Regierungsbildung in Berlin dominiert. Ein Zirkus, der für Kühnert an diesem Freitag in Sachsen weit weg ist, wie er auf dem Kurznachrichtendienst Twitter betont.
Pirna und Leipzig hat der Juso-Chef für den Start seiner #NoGroKo Tour 2018 ausgewählt. Insgesamt 19 Tage lang will Kühnert quer durch Deutschland reisen und auf 24 Veranstaltungen Stimmung gegen die große Koalition machen. Den Schlusspunkt will er am 27. Februar mit zwei Auftritten in Hamburg setzen. Pirna, die kleine Stadt in der sächsischen Schweiz, südöstlich von Dresden gelegen, habe er mit Bedacht gewählt, erzählt Kühnert am Abend in Leipzig. "Da müssen wir hingehen", sagt er über die Gegend, in der die SPD bei Wahlen nur noch einstellige Ergebnisse einfährt, die rechte AfD hingegen rund 40 Prozent.
SPD erneuern, aber wie?
In Leipzig sieht es für die Sozialdemokraten zwar etwas besser aus, aber über 13 Prozent bei der Bundestagswahl 2017 kann sich die Partei auch nicht freuen. "Es ist ja nicht so, dass wir da noch nie gute Ergebnisse geholt haben", sagt Kühnert. Man müsse in Erfahrung bringen, was die ehemaligen SPD-Wähler so massiv enttäuscht habe. "2005 haben wir im Osten noch flächendeckend 30 Prozent geholt, da ist etwas passiert, da hat es eine Entwicklung gegeben."
Eine Entwicklung, die Kühnert, aber auch viele andere in der Partei unbedingt stoppen wollen. So wie Nathanael Meyer und Niklas Soboll. Die beiden, 25 und 21 Jahre alt, kennen sich aus dem SPD-Ortsverband Leipzig Mitte. Meyer ist kurz nach der Bundestagswahl in die Partei eingetreten, Soboll erst vor drei Wochen. Wie alle anderen rund 460.000 SPD-Mitglieder dürfen beide bis Anfang März darüber abstimmen, ob ihre Partei erneut in eine große Koalition mit der Union eintreten soll oder nicht.
Martin Schulz ist weit weg
Soboll will mit "Nein" stimmen. Der Koalitionsvertrag überzeugt ihn nicht, die Inhalte sind ihm nicht links genug. Außerdem ist er der Meinung, dass die SPD in der großen Koalition nicht gut aufgehoben ist. Der junge Mann will, dass sich die Sozialdemokraten von Grund auf erneuern. Inhaltlich und auch personell. Für den Rückzug von Martin Schulz, der am Mittwoch zunächst den Parteivorsitz und nun auch seine Ambitionen auf das Amt des Bundesaußenministers aufgegeben hat, hat Niklas Soboll aber nur ein Achselzucken übrig. Dadurch ändere sich doch nichts.
Auch Nathanael Meyer beeindruckt Schulz' Rücktritt wenig. Im Gegensatz zu seinem Parteifreund Soboll weiß der 25-Jährige aber noch nicht, wie er im Mitgliederentscheid abstimmen wird. Den Koalitionsvertrag findet er teilweise gar nicht so schlecht. Aber in der Abwägung aller Argumente für und gegen eine neue GroKo ist er noch hin und her gerissen.
Für und wider GroKo
Neue Argumente bekommt Meyer an diesem Abend in Leipzig nicht zu hören. Die örtlichen Jusos haben neben Kevin Kühnert auch Katja Pähle eingeladen. Die Politikerin ist Landtagsabgeordnete in Magdeburg und Mitglied des SPD-Vorstands. Pähle verteidigt den Koalitionsvertrag und wirbt für ein "Ja" der Mitglieder. Natürlich sei der Vertrag ein Kompromiss, bei manchen Themen habe die SPD mehr, bei anderen weniger nachgeben müssen. "Aber es ist das Maximum dessen, was wir erreichen konnten."
Juso-Chef Kühnert formuliert das ähnlich, meint aber etwas ganz anderes. Am Vertrag an und für sich hat er zwar einiges, in der Summe aber gar nicht so viel auszusetzen. "Aber können wir uns darauf verlassen, dass das auch gemacht wird und die Union nicht wieder ihr Wort bricht?", fragt Kühnert seine Zuhörer in Leipzig. Auch 2013 habe der Koalitionsvertrag eine sozialdemokratische Handschrift getragen. Am Ende sei aber einiges von dem, was vereinbart worden war, "auf der Strecke geblieben", weil die Union sich quer gestellt habe.
Was passiert, wenn es Neuwahlen gibt?
Etwa 150, zumeist junge Sozialdemokraten hören Kühnert und Pähle in Leipzig zu. Aber es sind auch ältere SPD-Mitglieder dabei. Ein Mann meldet sich zu Wort. Er ist 73 Jahre alt und hat Anfang der 80er Jahre mit gegen den NATO-Doppelbeschluss demonstriert. Damals habe ein Kollege zu ihm gesagt: "Wenn ihr den Bundeskanzler Helmut Schmidt stürzt, dann werden die Schwarzen ganz lange regieren und das haben wir nicht für voll genommen." 16 Jahre regierten CDU und CSU nach dem Sturz des SPD-Kanzlers. "Ich bin davon überzeugt, wenn wir jetzt nicht in diese Koalition mit dieser geschwächten Angela Merkel eintreten, dann verschwinden wir für die nächsten 25 Jahre und dann, mein lieber Kevin, bist Du Rentner, bevor die SPD nochmal an die Macht kommt."
Auch andere SPD-Mitglieder sind skeptisch - vor allem mit Blick auf den weiteren Aufstieg der AfD. Die Rechtspopulisten würden immer mehr soziale Themen besetzen und hätten im Osten ohnehin schon große Teile der Arbeiterschaft für sich eingenommen. "Was, wenn das so weiter geht und wir dann Neuwahlen bekommen?", fragt ein älterer Mann. Katja Pähle widerspricht zwar. Die AfD fordere soziale Wohltaten nur für sogenannte "Bio-Deutsche" und keineswegs für alle in Deutschland lebenden Menschen, die mehr staatliche Hilfe nötig hätten. Der Mann, der die Frage gestellt hat, wirkt dennoch nicht überzeugt.
Von den Jusos lernen
Fast zwei Stunden dauert die Diskussion an diesem Abend in Leipzig. Der Name Martin Schulz fällt in dieser Zeit kein einziges Mal. Nur indirekt geht Juso-Chef Kühnert auf den Rückzug des SPD-Vorsitzenden ein. "Wenn sich alle in Berlin mal eine Scheibe davon abgeschnitten hätten, wie wir hier in den letzten Wochen mit großer Sachlichkeit die Debatte geführt haben, dann hätten wir jetzt weniger Chaos", sagt er unter dem Applaus der Zuhörer.