COVID-19: Schwellenländern droht Kollaps
13. Juli 2020Es war noch schlimmer als nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers im Jahr 2008: Als sich die COVID-19-Pandemie von Asien aus rund um den Erdball ausbreitete, drehten ausländische Investoren den Schwellenländern fast über Nacht den Geldhahn zu. Allein in der Frühphase der Pandemie, so schätzt der Internationale Währungsfonds (IWF), wurden mehr als 100 Milliarden US-Dollar an ausländischem Kapital aus Schwellenländern abgezogen.
Es sei "eine Krise, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat, die Erholung ungewiss", überschrieb der IWF im Juni seinen aktualisierten Ausblick auf die globale Wirtschaft. Industrieländer würden vielleicht ein oder zwei Jahre an Wirtschaftswachstum verlieren, während den Entwicklungs- und Schwellenländern ein verlorenes Jahrzehnt drohe, lautet das Schreckens-Szenario der IWF-Experten.
Seit seiner Gründung 1945 haben noch nie so viele Länder gleichzeitig den Weltwährungsfonds um Finanzhilfen gebeten, unterstrich IWF-Chefin Kristalina Georgieva den Ernst der Lage. Die Krisenmanager des Währungsfonds fürchten vor allem eines: Dass eine lang anhaltende Corona-Krise den IWF an seine finanziellen Grenzen bringt.
Die Weltbank rechnet für 2020 mit einem Wirtschaftsrückgang in den Schwellenländern von 2,5 Prozent. Im Vergleich mit dem erwarteten Minus von rund acht Prozent in Industrieländern wirkt das halb so schlimm. In den Schwellenländern ist es aber der stärkste Wirtschaftseinbruch seit den 1960er Jahren.
Mittlerweile hat sich die Kapitalflucht verlangsamt und erste Daten dauten darauf hin, dass seit Juni wieder mehr Investitionen in Schwellenländer fließen als abgezogen wird. Doch das gilt nicht für alle von der Corona-Krise betroffenen Volkswirtschaften.
Auch Emerging Markets in Europa betroffen
In Europa wurde Russland schwer von der Pandemie getroffen. Die Analysten von IHS Markit sehen aber vor allem schwierige Zeiten auf Länder wie Montenegro, Bosnien-Herzegowina, Armenien, die Türkei und Kroatien zukommen. Dort steuert der Tourismus 25 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) bei, in Montenegro sind es ebenfalls über 20 Prozent und in der Türkei immerhin noch mehr als 12 Prozent. Wie andere Schwellenländer ist die Türkei außerdem stark von ausländischen Investitionen abhängig.
Weltweit sind Länder wie die Philippinen mit einem Tourismus-Anteil von 25 Prozent oder Thailand mit knapp 22 Prozent am BIP schwer getroffen. Doch selbst die riesigen Volkswirtschaften von China und Indien sind mit einem Tourismus-Anteil von elf und neun Prozent ihrer Wirtschaftsleistung von den internationalen Reisebeschränkungen stark betroffen.
Der verblasste Glanz Brasiliens und Südafrikas
Frühere Stars unter den Schwellenländern wie Brasilien und Südafrika, die als Mitglieder der BRICS-Staaten viele Jahre im Rampenlicht der Finanzmärkte standen, waren schon vor der Coronakrise wirtschaftlich stark angeschlagen. Dass gerade dort die COVID-19-Pandemie besonders heftig tobt, verschärft die Krise noch weiter.
In den ärmeren Ländern in Südasien, Lateinamerika und Afrika forderte die Pandemie bislang zwar weniger Todesopfer als in den stark betroffenen Industriestaaten. Raghuram Rajan geht aber davon aus, dass der wirtschaftliche Schaden für sie erheblich höher sein wird. Der ehemalige Chef-Ökonom des IWF, der heute an der University of Chicago lehrt, hat vor allem Bauchschmerzen, wenn er an die hohe Verschuldung von Unternehmen in den Schwellenländern denkt.
Viele Schwellenländer-Währungen haben zu Dollar und Euro deutlich an Wert verloren. Unternehmen, die sich in Euro und Dollar verschuldet haben, müssen deshalb immer mehr Geld in ihrer Landeswährung aufbringen, um ihre Kredite zu bedienen. Kein Wunder, das Ökonomen wie Rajan vor der zunehmenden Gefahr von Unternehmenspleiten warnt.
Seit Monaten sind internationaler Warenverkehr, ausländische Direkt-Investitionen und Tourismus eingebrochen. Für viele stark von der Pandemie betroffene Schwellenländer sei das kaum aufzufangen, schrieb Rajan Anfang Juli in einem Gastbeitrag in der Financial Times. Sie hätten kaum die Mittel, durch milliardenschwere Konjunkturpakte und Hilfszahlungen an Verbraucher und Unternehmen ihre Wirtschaft zu stabilisieren. Dazu kommt, dass in vielen Schwellenländern ein flächendeckendes Gesundheitssystem kaum existiert und man nur unzureichend auf einen großen Corona-Ausbruch reagieren kann.
"Je länger dies anhält - und steigende Infektionen deuten darauf hin, dass noch Schlimmeres bevorsteht - desto mehr müssen selbst lebensfähige, große einheimische Unternehmen Kredite aufnehmen, um sich über Wasser zu halten. Wenn die Kreditgeber bei den Unternehmenskrediten aber kein Entgegenkommen zeigen, werden sich viele dieser überschuldeten Firmen finanziell nicht mehr erholen können, wenn es zum Aufschwung kommt und die Nachfrage anzieht", so der aus Indien stammende Star-Ökonom.
Gebremstes Wachstum schon vor der Pandemie
Die Corona-Krise trifft viele Schwellenländer in einer ohnehin schwierigen Phase. Schon lange vor der Pandemie stand für die Ökonomen des Londoner Think Tanks Capital Economics fest: "Das goldene Zeitalter der Schwellenländer ist vorbei. China muss sich über kurz oder lang auf Wachstumsraten von mageren zwei Prozent pro Jahr einstellen." Für die Schwellenländer sei die Zeit seit der Jahrtausendwende eine Periode ungewöhnlich hoher Wachstumsraten gewesen, die in absehbarer Zeit nicht mehr zu erreichen seien.
"Wir erwarten, dass sich das BIP-Wachstum der Schwellenländer von durchschnittlich 5,5 Prozent in den 2000er und 2010er Jahren auf etwa 3,5 Prozent in den Jahren 2020-2040 abschwächen wird. Das Wachstum wird immer noch schneller sein als in der entwickelten Welt. Aber die Einkommen in den Schwellenländern werden sich langsamer denen in höher entwickelten Ländern angleichen als bisher."
Lage in Lateinamerika
Länder wie Chile, Guatemala, Mexiko, Paraguay, Peru und Panama haben es geschafft, auch nach dem Ausbruch der Pandemie im Frühjahr Anleihen auf den internationalen Finanzmärkten zu platzieren, ohne horrende Krisenaufschläge, zu "einigermaßen guten Konditionen", erklärt Schwellenländer-Experte José Antonio Ocampo in einer Analyse für die Washingtoner Denkfabrik Brookings Institution.
Der Ökonom, der entwicklungspolitischer Berater der Vereinten Nationen ist und an der New Yorker Columbia University lehrt, rechnet damit, dass stark betroffene Länder in Lateinamerika einen Zahlungsaufschub unter Aufsicht der Weltbank oder regionaler Entwicklungsbanken brauchen, um die Folgen der Pandemie besser schultern zu können.
Für stark überschuldete Länder wie Argentinien und Ecuador ist die Lage allerdings viel ernster: Die brauchten auch schon vor der Krise mehr als nur einen Zahlungsaufschub bei ihren Staatsschulden.
Umschuldungen statt Zahlungsausfälle
Geht es nach Raghuram Rajan, müssen internationale Investoren von Staats- und Unternehmensanleihen auf einen Teil ihrer Forderungen gegenüber armen Ländern und Schwellenländern verzichten. "Schon allein aus Eigeninteresse dürfen die stärker industrialisierten Länder den Rest der Welt nicht in den Ruin treiben. Was anderswo geschieht, wird dort nicht bleiben", warnt er. Die drohende Massen-Arbeitslosigkeit in ärmeren Ländern werde zu einer Massen-Auswanderung führen. Mehr Protektionismus in den Industrieländern löse letztendlich "endlose Flottillen von Flüchtlingsbooten und Karawanen der Verzweifelten aus", so Rajan.