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PolitikEuropa

Kursk-Offensive der Ukraine: Neue Strategie gegen Russland?

Roman Goncharenko
12. August 2024

Erstmals seit der Invasion Russlands setzt die Ukraine Truppen ein, um russisches Kernland einzunehmen. Westliche Experten sehen in dem Vorstoß im Bezirk Kursk ein Anzeichen einer neuen Strategie - und Risiken.

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Russische Lancet-Munition zerstört ukrainische Militärausrüstung in der Nähe von Kursk
Russische Lancet-Munition feuert gegen ukrainische Militärausrüstung in der Nähe von Kursk: Betreibt die Ukraine eine neue Strategie in Kursk? Bild: Russian Ministry of Defense/Anadolu/picture alliance

Die Ukraine habe möglicherweise einen "ersten Schritt" zu einem Strategiewechsel bei der Abwehr der russischen Invasion eingeleitet. So beschreibt Jen Spindel, Professorin an der US-Universität New Hampshire, die Entwicklungen der letzten Tage in der westrussischen Oblast Kursk. "Die Ukraine kann diesen Krieg nicht weiter so kämpfen wie in den vergangenen zwei Jahren. Sie hat dafür einfach nicht genug Personal und Waffenbestände", so die Außen- und Sicherheitspolitikexpertin in einem DW-Gespräch.

Das wäre ein Wechsel, für den Spindel schon im Mai zusammen mit Kollegen im US-Fachmagazin Foreign Affairs plädiert hatte - "hin zu einem Erschöpfungskrieg anstatt eines Kriegs auf Augenhöhe". Die ukrainische Kriegsführung solle "asymmetrischer" werden. Das heißt, nicht der - in vielerlei Hinsicht überlegenen - russischen Armee auf offenem Feld entgegenzutreten, sondern Taktiken anzuwenden, die der Truppenstärke und Bewaffnung der ukrainischen Armee gerechter werden. Genau das scheint in Kursk zu geschehen. "Die Ukraine zeigt, dass das russische Territorium nicht mehr unantastbar ist, und dass die Ukraine es angreift, um russische Kräfte davon abzulenken, die Ukraine zu bombardieren und zu verwüsten", sagt Spindel.

Warum marschierte die Ukraine in Kursk ein?    

Eine Woche nach dem Beginn des ukrainischen Vorstoßes gibt sich Kiew schmallippig. Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach bisher lediglich von einer "Vorverlagerung des Krieges auf das Gebiet des Aggressors". Ein hochrangiger ukrainischer Militär sagte der Nachrichtenagentur AFP am Wochenende, es seien "Tausende" ukrainische Soldaten beteiligt. Das Ziel sei, russische Kräfte zu "überdehnen" und die Lage zu "destabilisieren". An diesem Montag äußerte sich erstmals Olexandr Syrskij, Oberbefehlshaber der ukrainischen Armee, zu der "offensiven Operation im Gebiet Kursk". Die Ukraine kontrolliere rund 1000 Quadratkilometer auf russischem Boden, so der General bei einer Lagebesprechung.

Auch Russlands Präsident Wladimir Putin äußerte sich am Montag erneut zu den Kämpfen in Kursk: "Der Gegner versucht, seine künftige Verhandlungsposition zu verbessern." Doch dies werde nicht gelingen, so der Kremlchef, das primäre Ziel Russlands sei momentan, die ukrainischen Kräfte zurückzudrängen.

Mehrere Menschen mittleren Alters und ein Kind halten sich vor schwarzen Zelten auf. Tausende mussten aus der Region Kursk evakuiert werden.
Bisher sollen rund 120.000 Menschen aus der Region Kursk evakuiert worden sein. Bild: AP Photo/picture alliance

Russische Quellen berichteten, dass am 6. August ukrainische Kräfte in das Gebiet Kursk einmarschiert und schnell mindestens zehn Kilometer vorgestoßen seien. Inzwischen berichten einige Medien, dass die ukrainische Armee rund 30 Kilometer in russisches Gebiet vorgedrungen sei und kleine Dörfer besetzt habe. Die Frontlinie sei sehr dynamisch. Das russische Verteidigungsministerium behauptet, das ukrainische Vorrücken sei gestoppt, gekämpft werde in zwei Unterbezirken an der Grenze. Besorgt gibt sich Moskau vor allem wegen des Atomkraftwerks Kursk, obwohl die Kämpfe russischen Berichten zufolge noch mindestens 30 km vom AKW entfernt seien. 

Es ist der erste größere Vorstoß offizieller Truppen der Ukraine auf russisches Territorium. 2023 gab es im Gebiet Belgorod kleinere Einsätze von russischen oppositionellen Verbänden, die auf Seiten der Ukraine kämpfen.

Experte: "Gut für die Moral, unbedeutend für den Krieg"

Der ukrainische Vorstoß sei "das Ergebnis sorgfältiger Planungen" auf ukrainischer Seite und eines "totalen Versagen der russischen Aufklärungsarbeit", urteilt der österreichische Militärhistoriker Oberst Markus Reisner gegenüber der DW. Er bescheinigt Kiew einen "klaren Sieg im Informationsraum", denn alle würden auf Kursk blicken und nicht auf den Donbas, wo die russische Armee bei Städten wie Tschassiw Jar und Pokrowsk langsam vorrückt. Solle die Ukraine die Gebiete in Kursk länger halten können, würde das Russland zu einer Umgruppierung zwingen. Das würde den Druck im Donbas verringern, sagt Reisner.

Gustav Gressel, Berliner Experte der Denkfabrik European Council on Foreign Relations (ECFR) schätzt die Lage in Kursk skeptischer ein: "Gut für die Moral, unbedeutend für den Krieg", konstatierte Gressel in einer Analyse für die DW in den ersten Tagen des Vorstoßes. "Es gibt keine Anzeichen, dass Russland Kräfte aus dem Osten herauslöst, um den ukrainischen Vorstoß zu stoppen."  Inzwischen gibt es zwar unbestätigte Berichte, dass Russland einige Truppenteile aus der Nordostukraine nach Kursk verlegt hat. Doch Gressel meint: "Von einer Verlängerung der Front auf russisches Gebiet profitiert in erster Linie Russland, da es die ukrainischen Streitkräfte weiter überdehnt."

Ein Porträtfoto eines Mannes im mittleren Alter
Gustav Gressel, Politikwissenschaftler und Militärexperte am European Council on Foreign RelationsBild: DW

Die Ukraine könne aber wohl auch andere Ziele mit dem Vorstoß Richtung Kursk verfolgen, meinen die befragten Experten. Etwa - wie auch Putin vermutet - eine bessere Verhandlungsposition mit Russland zu erlangen. Oder Moral ukrainischer Truppen zu heben, "die seit anderthalb Jahren in einem zermürbenden Abnutzungskrieg 'nur' ihre Stellungen verteidigen", sagte der DW der deutsche Publizist und Ukraine-Kenner Winfried Schneider-Deters. Für sie sei die Bedeutung dieser Offensive wahrscheinlich nicht zu überschätzen - zumal auf feindlichem Territorium.

"Möglicherweise will die ukrainische Führung damit Russland, vor allem aber dem Westen demonstrieren, dass die Ukraine nicht am Ende ihrer Kräfte ist", so Schneider-Deters, und: "dass sie bei weiterem Nachschub an westlichen Waffen immer noch die Möglichkeit hat, den Krieg zu gewinnen."

Was sagen die USA und andere Partner?

Der Vorstoß sei eine "Zäsur" und "längst überfällig", meint Schneider-Deters. Zuvor hätte der Westen - geführt von den USA - die Ukraine aus Sorge vor einer weiteren räumlichen Ausweitung des Krieges wahrscheinlich davon abgehalten, analysiert Schneider-Deters. Dass sich die Ukraine nun darüber hinwegsetzte finde er "richtig".

Eine US-ATACMS-Rakete schießt in die Luft
Mit solchen ATACMS-Raketen darf die Ukraine russisches Kernland nicht angreifen Bild: U.S. Army/Avalon/Photoshot/picture alliance

Washington, Berlin und andere Regierungen hatten der Ukraine lange verboten, ihre Waffen für Angriffe auf russisches Gebiet einzusetzen. Grünes Licht kam erst im Mai 2024 nach der russischen Offensive bei Charkiw. Die Erlaubnis blieb jedoch beschränkt auf das direkte Grenzgebiet. Raketen wie die ATACMS aus den USA dürfen weiterhin nur auf besetztes ukrainisches Gebiet abgefeuert werden.

Bisher haben die USA zurückhaltend auf den ukrainischen Vorstoß reagiert. Jen Spindel geht davon aus, dass es viele Telefonate auf hoher Ebene zwischen Kiew und Washington gab, um zu deeskalieren.

Wie weit werden ukrainische Truppen vorstoßen?

Der Einsatz in Kursk ziele nicht darauf, bis Moskau vorzustoßen, glaubt Jen Spindel. Daran habe niemand ein Interesse. Je weiter die ukrainische Armee vorrücke, desto größer das Risiko, dass ihre Truppen von der Versorgung abgeschnitten werden. Um ihre Ziele zu erreichen, brauche die Ukraine nicht "besonders weit" ins russische Hinterland vorzustoßen, meint die Expertin: "Es genügt ihr in die Gebiete vorzurücken, die als Aufmarschgebiet dienen und wo Russland seine Waffen aufbewahrt". Sollte Russland in den kommenden Tagen keine "massive Antwort" geben, könnte die Ukraine versuchen, weitere Ziele in Russland anzugreifen, meint Spindel. Auch bleibe abzuwarten, ob Moskau einen "sich abzeichnenden Angriff aus dem Norden der Ukraine" verschiebe.       

Dabei müsse die Ukraine auch eine Balance halten und Rücksicht auf ihre westlichen Partner nehmen, so Spindel. Bisher sei die Ukraine "ausreichend für eine klare Operation in Russland" vorgerückt, aber "nicht ausreichend, um Sorgen über einen viel größeren Einsatz auszulösen". Insgesamt erwartet Spindel keine großen Veränderungen im Krieg als Folge des Vorstoßes. Sie geht davon aus, dass es weitere Einsätze dieser Art geben werde, bei denen die Ukraine auf ein Überraschungsmoment setzt. Das Ziel: "Russland aus der Balance zu bringen".