Seit vier Monaten im Hungerstreik
5. März 2019"Für mich sind es schwere und nahezu ausweglose Tage in meinem Leben. Sie ist meine Mutter, meine Freundin. Meine größte Angst ist es, dass ihr etwas passiert. Ich versuche mich zu beruhigen, indem ich mir selber Mut zusprechen und denke, dass am Ende alles gut wird."
Dies sind die Worte einer jungen Frau, deren Mutter seit 118 Tagen im Hungerstreik ist. Die 37-jährige Sabiha Temizkan ist die Tochter von Leyla Güven, Abgeordnete der zweitgrößten Oppositionspartei im türkischen Parlament, der pro-kurdischen HDP.
Abdullah Öcalan ist seit mittlerweile 20 Jahren in Haft. Seit dem 8. November 2018 haben sich die Haftbedingungen für den Chef der in der Türkei und der EU als Terrororganisation verbotenen Kurdenpartei PKK verschlechtert: kein Besuchsrecht für seine Familie, kein Besuchsrecht für seine Anwälte. Genau seit diesem Tag befindet sich Leyla Güven im Hungerstreik. Ärzte sagen, dass ihr Leben "am seidenen Faden" hänge.
In einem Interview der Deutschen Welle bestätigt ihre Tochter, dass ihr Mutter bislang 14 Kilo abgenommen habe. Das Gehen und auch das Sprechen falle Leyla Güven von Tag zu Tag schwerer. Dies ist auch der Grund, weshalb Leyla Güven das Interview mit der DW nicht selbst führen konnte.
Vor dem Haus in Diyarbakir im Südosten des Landes, wo Leyla Güven ihren Hungerstreik fortsetzt, patrouilliert die örtliche Polizei. Sabiha Temizkan tut alles, um ihre Mutter zu unterstützen, erzählt sie: "Ärzte sagen, dass es bereits erste Anzeichen von Muskelschwund bei meiner Mutter gebe. Sie ist 55 Jahre alt, und ihr Zustand wird immer kritischer. So lange die Forderungen meiner Mutter nicht umgesetzt werden, so lange bleibt sie bei ihrem Entschluss weiterzumachen."
In der Haft zur Abgeordneten gewählt
Leyla Güven zählt zu den wichtigsten Persönlichkeiten in der kurdischen Politik. Am 31. Januar 2018 wurde sie festgenommen; der Vorwurf lautete auf "Terror-Unterstützung". Trotzdem wurde sie bei den Parlamentswahlen am 24. Juni des vergangenen Jahres als Abgeordnete der HDP ins türkische Parlament gewählt. Zu diesem Zeitpunkt befand sie sich immer noch in Haft.
Bis heute werden in der türkischen Gesellschaft kurdische Parteien mit der PKK und den dahinter stehenden Ideen in Verbindung gebracht. Die HDP (Demokratische Partei der Völker), wurde 2012 gegründet; PKK-Chef Öcalan schickte zur Gründung ein Grußwort, doch die Partei distanziert sich von den gewaltsamen Akten der PKK. Die Partei konzentriert sich auf Minderheitenrechte, vor allem für die kurdische Minderheit. Sie bekam bei den Parlamentswahlen 2015 Stimmen von kurdischen und türkischen Wählern und erreichte einen Stimmenanteil von über 13 Prozent. Auch bei den vorgezogenen Parlamentswahlen 2018 kam sie mit knapp 12 Prozent der Stimmen ins Parlament. Nach dem Putschversuch von 2016 wurden hunderte HDP-Abgeordnete und Parteifunktionäre verhaftet, darunter auch die ehemaligen Parteichefs Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdag. Für 94 der 102 Gemeinden, in denen die HDP den Bürgermeister stellte, bestellte die Regierung Zwangsverwalter.
Die Regierung schweigt, die Aktivisten sind entschlossen
In den vergangenen drei Monaten haben sich Hunderte von PKK-Sympathisanten Leyla Güvens Forderungen nach besseren Haftbedingungen für Abdullah Öcalan angeschlossen. Auch sie sind sich im Hungerstreik; von Tag zu Tag steigt ihre Zahl, viele befinden sich in kritischem Zustand. Die Erdogan-Regierung indes schweigt zu den Hungerstreiks. Am 12. Januar dieses Jahres durfte nach langer Zeit Mehmet Öcalan seinen Bruder im Gefängnis besuchen. Doch Leyla Güven und ihre Gefolgsleute stehen zu ihrem Entschluss: Der Hungerstreik wird fortgesetzt, bis es eine Besuchsgarantie für Familie und Anwälte gibt.
"Die Krise wird immer größer"
Die Anwaltskammer von Diyarbakir, Menschenrechtsvereine und andere NGOs wie die Vereinigung der Mediziner haben die "Plattform zur Beobachtung von Hungerstreiks" ins Leben gerufen. Cihan Aydın, der Vorsitzende der Anwaltskammer Diyarbakir sagt gegenüber der DW, dass die Zahl von Hungerstreikenden unter inhaftierten PKK-Sympathisanten bis heute signifikant zugenommen habe. Aydin schätzt, dass sich "weit über 10.000 Menschen im Hungerstreik befinden".
Der Anwaltsverein hat bei mehreren Gelegenheiten immer wieder auf die Gefahr von Hungerstreiks hingewiesen. Aydin sagt weiter: "Bevor jemand durch einen Hungerstreik ernsthaft verletzt wird oder gar zu Tode kommt, muss dieses Problem auf juristische Weise gelöst werden. Doch leider hat die Regierung auf unsere Hinweise bis dato in keinster Weise reagiert. Die Krise wird im weiteren Verlauf immer größer."
In der Türkei haben Hungerstreiks als politische Motivation eine regelrechte Tradition, besonders in der kurdischen Politikbewegung. Ob in den 1980ern oder in den 1990ern - immer wieder gab es kollektive Hungerstreiks, um vereinzelte Forderungen durchzusetzen. Höhepunkt war zweifellos der 12. September 2012, als schon einmal für Öcalan protestiert wurde. Schon damals ging es um bessere Haftbedingungen für den PKK-Chef. Damals traten in zahlreichen türkischen Gefängnissen weit über 10.000 Gefangene in den Hungerstreik. Nachdem Öcalans Familie der Zutritt gewährt wurde, beendeten die Gefangenen ihren Hungerstreik nach 68 Tagen. Gleichzeitig begann die Regierung mit PKK-Vertretern den so genannten Friedensprozess. Im Jahr 2015 wurde der Prozess jedoch abgebrochen - der Grund: fehlendes Vertrauen auf beiden Seiten. Kurz danach begannen die Kämpfe zwischen PKK und Einheiten der Regierung erneut. Der Staat verweigerte seit dieser Zeit den Zugang von Familienmitgliedern und Anwälten zum PKK-Chef.
"Ein Indiz für die Überlastung der Politik"
Dr. Vahap Coşkun ist Professor für öffentliches Recht an der juristischen Fakultät der Diyarbakır Dicle Universität. Gegenüber der DW geht er davon aus, dass die zahlreichen Hungerstreiks ein Indiz für die Überlastung der Politik sind. Auf der anderen Seite betonte Coşkun, dass Hungerstreiks keine akzeptable Form des politischen Kampfes sei, weil dabei das eigene Leben aufs Spiel gesetzt werde. Der Jurist weist darauf hin, dass die Türkei mit den Kommunalwahlen in eine kritische Phase eintaucht, und ergänzt: "Trotz dieses pessimistischen Szenarios gibt es noch viel zu tun, das die Politik in Angriff nehmen muss."