"Sprachliche Vielfalt dient Völkerverständigung"
21. Februar 2019Haben Sie schon einmal etwas von Coushatta, Tofalarisch oder Saterfriesisch gehört? Diese Sprachen waren einst in bestimmten Regionen Alaskas, Sibiriens und Deutschlands Alltag. Jetzt sind sie vom Aussterben bedroht. Genau wie fast 2600 weitere Sprachen weltweit zu verschwinden drohen.
Deswegen hat die UNESCO im Jahr 2000 den 21. Februar zum Internationalen Tag der Muttersprache erklärt. Der Tag ist nicht zufällig ausgewählt: Als Britisch-Indien unabhängig wurde, entstanden die Staaten Indien und Pakistan. Die Pläne, Urdu zur alleinigen Staatssprache in Ostpakistan (heute Bangladesch) zu erheben, trieb Intellektuelle und Studenten in Dhaka auf die Straße. Sie kämpften für eine Anerkennung des Bengalischen als offizielle Staatssprache. Erst nach einer verbotenen Demonstration am 21. Februar 1952, bei der mehrere Studenten getötet wurden, gab die Regierung nach. Bengalisch wurde zweite Amtssprache.
Wir haben mit dem Sprachwissenschaftler Professor Aria Adli von der Universität zu Köln über die Bedeutung des Internationalen Tags der Muttersprache, kulturelle Identitäten und Modeerscheinungen in der Sprache gesprochen.
DW: Herr Professor Adli, die UNESCO hat eine Liste mit Sprachen erstellt, die massiv bedroht oder sogar schon ausgestorben sind. Wie kann eine Sprache denn überhaupt sterben?
Eine Sprache kann dann sterben, wenn die Anzahl der Sprecher zu gering wird, so dass sie von den Eltern kaum mehr an die nächste Generation weitergegeben werden kann. Verstärkt wird dies dadurch, wenn die Sprache auch institutionell keinen Einfluss hat. Eines der erklärten Ziele der Vereinten Nationen ist der Erhalt der sprachlichen und kulturellen Vielfalt, damit man eben nicht nur in einer Welt lebt, in der es eine oder wenige Hegemonien gibt, die sehr viel Macht besitzen, sondern Respekt für die Verschiedenheit von Völkern. Diese Vielfalt trägt letztlich dazu bei, dass es Völkerverständigung gibt, auf der Grundlage von Einheit in Vielfalt. Das muss bewahrt werden. Wenn das verloren ginge, entstünde tatsächlich ein nachhaltiger Schaden.
Man hört immer wieder, junge Leute könnten kein richtiges Deutsch mehr. Es wird sogar der Untergang der deutschen Sprache beschworen. Was ist da dran?
Sprache ist ständig im Wandel, ständig im Fluss. Das ist der natürliche Gang der Dinge. Wenn sich die Elterngeneration also heute beschwert, dass die Jungen die Sprache nicht mehr richtig beherrschen, dann könnte man den Spieß auch umdrehen und sagen: Die Elterngeneration hat nicht dazugelernt, um so zu sprechen, wie man eigentlich heutzutage spricht.
Viele schimpfen über Anglizismen in der Sprache. Spricht man die Sprache der Mächtigen, des Volkes also, das in der aktuellen Weltlage besonders viel Einfluss hat?
Ja - wobei mächtig eigentlich nicht nur die politisch Mächtigen oder die wirtschaftlich Mächtigen sind, sondern ganz wesentlich diejenigen, die im Kulturleben und auch in der Jugendkultur präsent sind. Soziolinguisten sprechen dann von "Prestige": Wenn eine bestimmte Form von Sprache sozusagen cool oder angesehen ist, dann tendiert man dazu, das auch zu verwenden. Und das Englische genießt, gerade durch Internet, Film- und Musikkultur, seit einigen Generationen verstärkt Prestige. Davor gab es eine längere Phase, in der das Französische im deutschsprachigen Raum einen hohen Prestigewert hatte. Kenntnisse waren wichtig, wenn man einem bildungsbürgerlichen Ideal entsprechen wollte. Solche Moden spiegeln sich in der Art, wie wir sprechen, wider. Das ist etwas ganz Natürliches. Wäre es anders, müsste man sich ein bisschen Sorgen machen, dass ein Zustand eingefroren ist und dann eigentlich auch tatsächlich keine Vitalität mehr hätte.
Beeinflusst Sprache unser Denken und Handeln?
Da gibt es tatsächlich ganz unterschiedliche Ansichten. Ich gehöre zu denjenigen, die sagen, es ist nicht wirklich die Sprache entscheidend für das Denken, sondern es ist der kulturelle Kontext, in dem die Sprache gebraucht wird. Wenn Sie zum Beispiel eine deutschsprachige Community wie die Mennoniten in Nord- oder Südamerika besuchen, die in einem ganz anderen kulturellen Kontext leben, werden Sie feststellen, dass manches dort – kulturbedingt - anders interpretiert wird als in der Bundesrepublik Deutschland. Die kulturellen Regeln, die man dort lernt, schlagen sich letztlich auch in der Art und Weise des Sprachgebrauchs nieder. Das ist das Entscheidende.
Man kann oft beobachten, dass ein und dieselbe Person sich beim Sprechen in einer anderen Sprache anders gebärdet. Woran liegt das?
Das ist die kulturelle Vielfalt, die man erworben hat, als man auch verschiedene Sprachen gelernt hat. Wenn jemand zum Beispiel viele Jahre in Brasilien gelebt und Portugiesisch gelernt hat, dann hat er natürlich nicht nur die Grammatikregeln und den Wortschatz und die Ausspracheregeln gelernt. Er hat vor allem auch eine andere Gesellschaft, andere kulturelle Normen, eine andere Art und Weise des Miteinanders gelebt und hat damit sozusagen auch einen weiteren Teil in seiner Persönlichkeit entwickelt. Das kommt dann auch zum Vorschein, wenn man eine andere Sprache spricht.
Es gibt Worte, die gibt es so nur in einer Sprache. Auf Deutsch ist zum Beispiel unsere "Gemütlichkeit" rund um den Globus gegangen. Warum gibt es das in anderen Sprachen nicht?
Es gibt bestimmte spezifische Kontexte, mit denen sich auch ganz bestimmte Bilder verbinden, die an einem Ort mit einer ganz bestimmten Geschichte gewachsen sind und dann eben mit einem Wort belegt worden. Und wenn man dieses Wort belegt, schwingt all das mit. Wenn man diese spezifische Geschichte mit transportieren will, dann ist es natürlich nicht so einfach zu übersetzen.
In George Orwells "1984" versucht ein totalitärer Staat durch Sprachmanipulation, das Denken der Bevölkerung zu kontrollieren. Die Menschen sollen nicht einmal an Aufstand denken können, weil ihnen das Wort dazu fehlt. Wäre so etwas möglich, stimmen Sie dem zu?
Wenn man mit dem Wort nicht nur den Lexikon-Eintrag verbindet, sondern wenn das Fehlen dieses Wortes auch bedeutet, dass so ein politisches Konstrukt, das man mit Aufstand benennen könnte, gar nicht erlernt wurde, dann stimme ich dem zu. Ob man jetzt das Wort hat oder nicht, ist nicht wesentlich, sondern ob man letztlich diese Verhaltensweisen in der Gesellschaft kennt. Das ist das Entscheidende.
Sie sind anlässlich des Internationalen Tags zur Muttersprache nach New York gereist, wo Sie zum Thema Vielfalt und Mehrsprachigkeit in einer Metropole referieren.
Wenn man in diese Stadt kommt, dann merkt man: Das Konzept Inländer oder Ausländer macht praktisch überhaupt gar keinen Sinn. Hier leben so viele Menschen aus so vielen verschiedenen Herkunftsländern zusammen und es funktioniert. Es funktioniert, weil diese Vielfalt der Konsens für das Zusammenleben ist. Deswegen sagt man zu New York auch "melting pot", und da kann man sich eine Scheibe von abschneiden und etwas lernen. Ich würde mir für Deutschland wünschen, dass die Menschen nicht so viel Angst davor haben, wenn Stadtviertel entstehen, in denen mehrheitlich nicht Deutsch im Alltag gesprochen wird. Meine Kollegen hier haben schon 800 gesprochene Sprachen in New York erfasst. Und wenn man in diese wunderbare Stadt kommt, kann man sehen, wie positiv das belegt sein kann.
Das Gespräch führte Suzanne Cords.
Werfen Sie auch einen Blick in unsere Bildergalerie. Welche deutschen Wörter haben sich auf Weltreise begeben?