Irak: Zehn Fragen, zehn Antworten
12. Juni 20141. Was ist ISIS?
Die sunnitische Terrorgruppe "Islamischer Staat im Irak und in Syrien" (ISIS) hat sich aus verschiedenen anderen Extremistengruppen entwickelt. Sie alle hatten gegen die US-Besatzung des Iraks und gegen die Regierung in Bagdad gekämpft. ISIS zählt zu den Ablegern des Terrornetzwerks Al-Kaida, widersetzte sich aber 2013 unter ihrem Anführer Abu Bakr al-Bagdadi den Al-Kaida-Weisungen. ISIS-Kämpfer kontrollieren im Bürgerkriegsland Syrien und im Westen und Norden des Iraks weite Gebiete. Ihr Ziel ist ein Staat zwischen Mittelmeer und Tigris, in dem ein besonders rigoroses Islam-Verständnis Gesetz sein soll.
2. Warum scheint Iraks Regierung machtlos gegen ISIS?
Die irakische Regierung unter Premier Nuri al-Maliki konnte den raschen Vorstoß von ISIS zunächst nicht stoppen. Dafür gibt es nach Einschätzung von Falko Walde, Irak-Experte der Friedrich-Naumann-Stiftung eine Reihe von Gründen: Zum einen profitiere ISIS von der durchlässigen Grenze zu Syrien. So könne die in beiden Ländern aktive Organisation leicht Kämpfer und Waffen verschieben. Außerdem gebe es in Bagdad ein Machtvakuum, weil al-Maliki seit der Parlamentswahl im April immer noch Koalitionspartner sucht. Am wichtigsten seien jedoch die konfessionellen Spannungen zwischen der sunnitischen Minderheit und der schiitischen Mehrheit. Viele Sunniten im Irak fühlten sich benachteiligt. "Das ist der perfekte Nährboden für Milizen wie ISIS, die ganz gezielt sunnitische Städte im Irak destabilisieren", beschreibt Walde den Konflikt.
3. Welche Bedeutung hat die Erstürmung von Mossul?
Mit der Einnahme von Mossul kontrollieren die Dschihadisten erstmals eine irakische Millionenstadt. Das sei ein großer psychologischer Erfolg, der ISIS weiteren Zulauf von anderen sunnitischen Extremisten bescheren werde, meint Walde. Darüber hinaus sei Mossul wirtschaftlich und geografisch bedeutsam. Mossul sei eine wichtige Exportroute für Erdöl und ein Knotenpunkt auf dem Weg nach Syrien, betont der Fachmann der Naumann-Stiftung. Die Eroberung der Millionenstadt sei aber nur eine Etappe für die Extremisten, die von dort aus weiter vorstoßen wollten.
4. Wie reagieren die Schiiten?
Die Schiiten fühlen sich vom Vormarsch der sunnitischen Kämpfer massiv bedroht. Nach Einschätzung von Myriam Benraad von der Denkfabrik European Council on Foreign Relations könnten einzelne schiitische Milizen in den Irak zurückgeholt werden, die bislang noch in Syrien auf der Seite des syrischen Machthabers Baschar al-Assad kämpfen. Es könnte dazu kommen, dass verschiedene schiitische Gruppen anstelle der schwachen irakischen Armee in die Kämpfe eingreifen, um die schiitische Bevölkerung zu schützen.
5. Was tun die Kurden im Irak?
Die kurdische Bevölkerung im Nordirak versucht zwar, sich aus dem Konflikt zwischen sunnitischen und schiitischen Arabern herauszuhalten. Benraad zufolge wird ihr das jedoch nicht gelingen. Zum einem versuchen ISIS-Kämpfer und deren Verbündete auch auf die Stadt Kirkuk vorzustoßen, die Araber und Kurden für sich beanspruchen. Dort liegen wichtige Ölfelder im Land. Zum anderen fliehen immer mehr Iraker vor dem ISIS-Terror in den kurdischen Norden, der ohnehin schon viele Flüchtlinge aus dem syrischen Bürgerkrieg beherbergt.
6. Wird der Irak auseinanderfallen?
Noch herrscht die Zentralregierung in Bagdad offiziell über alle Landesteile. Doch die tatsächliche Aufspaltung des Iraks unter den sunnitischen und schiitischen Arabern und den Kurden ist schon weit fortgeschritten. "Es gibt eine reale Gefahr, dass der Irak zerfällt", sagt Irak-Spezialistin Benraad. Die Auseinandersetzung werde sehr lange andauern und sehr blutig sein, befürchtet die ECFR-Mitarbeiterin.
7. Wie sind die Nachbarstaaten in den Irak verwickelt?
Im Irak stoßen die Interessen vieler Staaten der Region aufeinander. Irak, Iran, Syrien sowie die libanesische Hisbollah gelten als schiitische Achse. Sie ringt mit den sunnitischen Staaten um Einfluss. Nach Ansicht der Nahost-Expertin Florence Gaub vom European Union Institute for Security Studies hat die schiitisch dominierte Regierung in Bagdad zwar gute Beziehungen zum benachbarten Iran, ist aber keine Marionette von Teheran. Außerdem gebe es im Irak viele schiitische Gruppen und Bewegungen mit eigenen Interessen.
Andere Nachbarstaaten wie die Türkei und Saudi-Arabien gelten als Unterstützer der Sunniten. Gaub zufolge ist die Lage jedoch komplizierter. So seien auch die Interessen der irakischen Sunniten keineswegs einheitlich. Die radikalen Islamisten stünden zwar im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, so Gaub. Dazu kämen jedoch sunnitische Stämme, Anhänger des gestürzten Baath-Regimes, frühere Militärs und andere. Nur ein Teil von ihnen werde vermutlich von Saudi-Arabien unterstützt.
8. Inwieweit ist Europa von den Ereignissen betroffen?
Europa wird von den Entwicklungen in Irak unmittelbar betroffen, ist Myriam Benraad vom European Council on Foreign Relations überzeugt. Wie schon im syrischen Bürgerkrieg werde die Zahl von Dschihadisten, die aus dem irakischen Kampfgebiet zurückkehren, deutlich zunehmen. "Das ist eindeutig eine Gefahr für die nationale Sicherheit in Europa", betont Benraad. Darüber hinaus werde die Zahl der Flüchtlinge aus der Region wachsen. Zudem breiteten sich die sunnitischen Extremisten in immer mehr Ländern im Umfeld Europas aus. Auch Libanon, Jordanien und vielleicht auch Ägypten könnten betroffen sein.
9. Wie verhalten sich die USA?
Die USA haben bereits Anfang des Jahres, als ISIS-Kämpfer weite Teile der westirakischen Provinz Anbar eroberten, Waffenlieferungen an die Regierung von al-Maliki angekündigt. Obwohl die Kritik an Nuri al-Maliki auch in den USA lauter geworden ist, will ihn die US-Regierung im Kampf gegen die Terrorgruppen unterstützen. Dabei haben die USA offenbar kein Problem, einer Regierung zu helfen, die enge Beziehungen zum Iran pflegt.
10. Welchen Ausweg gibt es aus der Krise im Irak?
Nahost-Spezialistin Gaub verweist auf die Taktik, die 2008 schon einmal half, sunnitische Terrorgruppen im Irak zurückzudrängen. Damals war es kurzzeitig gelungen, die sunnitischen Stammesmilizen mit politischen Zugeständnissen auf die Seite der Regierung zu ziehen. Abgesehen vom militärischen Vorgehen sei es auch diesmal der einzige Weg, die nicht-islamistischen Gruppen von ISIS zu trennen, sagt Gaub. Ob der bedrängte Premier al-Maliki sich darauf einlasse, sei jedoch offen.