1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

"Konfliktlösung ist nicht absehbar"

Julia Mahncke11. Juni 2014

Nachdem ISIS-Kämpfer im Irak erfolgreich Gebiete erobern konnten scheint das Land nun gänzlich aus der Balance geworfen zu sein. Bagdads Strategien können die Lage nicht beruhigen, meint Nahost-Experte Günter Meyer.

https://p.dw.com/p/1CGhs
Prof. Günter Meyer ist Professor für Geographie an der Universität Mainz und Leiter des Zentrums für Forschung zur Arabischen Welt (Foto: Peter Pulkowski / dpa)
Bild: picture-alliance/dpa/Peter Pulkowski

Die zweitgrößte irakische Stadt Mossul ist seit Dienstag (10.06.2014) unter der Kontrolle von radikalislamischen Aufständischen. Jetzt nehmen sie Kurs auf weitere Städte, darunter auch Bagdad. Seit Anfang dieses Jahres besetzen die sunnitischen Kämpfer bereits die Stadt Falludscha und Teile der Provinz Anbar. Hinter den Angriffen steht die Gruppe "Islamischer Staat im Irak und Syrien" (ISIS).

Deutsche Welle: Warum bekommt Ministerpräsident Nuri al-Maliki den Terror im Irak nicht in den Griff?

Prof. Günter Meyer: Das liegt vor allem daran, dass er nach dem Abzug der US-amerikanischen Truppen im Jahr 2011 alles daran gesetzt hat, die Macht in das schiitische Lager zu lenken. Wir erleben derzeit einen brutalen Machtkampf unter der Leitung des Ministerpräsidenten al-Maliki, der versucht, die schiitische Bevölkerung, die unter Saddam Hussein von den Sunniten unterdrückt worden ist, überall in die führenden Positionen hineinzubringen. Vor diesem Hintergrund müssen wir die spezielle Situation im Nordwesten des Landes sehen. Hier liegen die Kerngebiete der arabischen Sunniten. 2007 erreichten die Terroranschläge meist sunnitischer Islamisten gegen die US-amerikanischen Besatzungstruppen und die Übergangsregierung ihren Höhepunkt.

Damals war es den Amerikanern gelungen, die ansässige Bevölkerung in den sunnitischen Gebieten dadurch ins Boot zu holen, dass sie sich mit den Stammesführern zusammentaten. Sie honorierten die Stammeskämpfer dafür, dass diese mit großem Erfolg gegen die militanten Sunniten von Al-Kaida im Irak vorgingen. Als die Amerikaner abgezogen waren, dachte al-Maliki überhaupt nicht mehr daran, auf diese Unterstützung der sunnitischen Stämme zurückzugreifen. Im Gegenteil: Er hat als erstes die Besoldung der sunnitischen Kämpfer gestrichen. Auch Versprechen von Arbeitsplätzen für die Angehörigen der sunnitischen Stämme galten plötzlich nicht mehr. Stattdessen begann er mit einer massive Diskriminierung der sunnitischen Bevölkerung.

In der Vergangenheit hat al-Maliki hauptsächlich auf das Militär gesetzt, um Angriffe seiner Gegner niederzuschlagen. Dieses Mal haben sich seine Soldaten vergleichsweise zügig zurückgezogen. Was ist passiert?

In Mossul haben wir erlebt, wie einige hundert Kämpfer der ISIS in die Stadt eingedrungen sind und sie eingenommen haben, obwohl dort tausende Armeeangehörige stationiert waren. Dieser Erfolg der ISIS ist vor allem dadurch zu erklären, dass hier die Mehrheit der Einwohner arabische Sunniten sind, von denen die vorwiegend mit Schiiten besetzte Provinzregierung und Armee als Besatzungsmacht empfunden wird. Auch im gesamten Umland bilden sunnitische Stämme die Bevölkerungsmehrheit. Die Menschen dort sympathisieren zwar keineswegs in jeder Hinsicht mit den Zielen der Angreifer. Sie stellen sich aber dennoch zumindest teilweise hinter die ISIS-Kämpfer, weil sie in ihnen Unterstützer gegen die anti-sunnitische Regierung in Bagdad sehen.

Ließe sich die ISIS überhaupt davon beeindrucken, falls al-Maliki noch Eingeständnisse gegenüber der sunnitischen Minderheit macht?

Ich gehe davon aus, dass die Situation inzwischen soweit fortgeschritten ist, dass ISIS sich nicht damit zufrieden geben wird. Sie haben enorme militärische Erfolge verbucht und sehen den großen Rückhalt, den sie bei erheblichen Teilen der Bevölkerung haben. Sie werden gar nicht daran denken, Kompromisse einzugehen, die ihrem Ziel eines Islamischen Kalifats entgegenstehen.

Die USA haben Hilfe angeboten, Bagdad hat die Kurden im Norden gebeten, ihre Miliz nach Mossul zu schicken, und al-Maliki will die Bevölkerung bewaffnen, um gegen die ISIS-Kämpfer vorzugehen. Ist davon irgendeine Strategie erfolgsversprechend, um die besetzten Gebiete zurückzuerobern?

Die USA haben bereits in den letzten Monaten - nach der Besetzung von Falludscha und Ramadi - im großen Stil Waffen zur Bekämpfung von Terroristen an al-Maliki geliefert. Viel mehr können sie nicht tun. Mit einer Unterstützung aus Kurdistan ist nicht zu rechnen. Gerade in den letzten Wochen hat sich der Streit mit der Regierung in Bagdad um die Erdölexporte aus dem kurdischen Gebiet massiv verschärft. Die Kurden haben eine eigene Pipeline gebaut und exportieren Erdöl über die Türkei ans Mittelmeer. Die irakische Regierung versucht, internationale Konzerne daran zu hindern, das Erdöl zu kaufen. Der Streit zwischen dem weitestgehend autonomen Kurdistan und Bagdad bedeutet, dass die Kurden sicherlich nicht in Mossul den Regierungstruppen zu Hilfe eilen werden. Der Aufruf zur Bildung von Bürgerwehren hilft im sunnitischen Norden nicht. Die dortigen Stämme werden nicht bereit sein, für die anti-sunnitische Regierung die Kohlen aus dem Feuer zu holen.

Welche Handlungsmöglichkeiten sehen Sie noch für den Präsidenten?

Er hat im Parlament beantragt, Notstandgesetze zu erlassen, also de facto das Kriegsrecht auszurufen. Darüber wird am Donnerstag (12.06.2014) entschieden. Wenn er dem Drängen der Amerikaner folgt und militärisch gegen die sunnitische Bevölkerung vorgeht, wird der Widerstand im Norden noch zunehmen. Bei der gesamten Einschätzung muss man sich auch die geostrategische Lage vor Augen führen. Maliki hat die Unterstützung der iranischen Führung und er kooperiert eng mit der syrischen Regierung. Die schiitische Achse - die über Teheran und Bagdad nach Damaskus bis in den Süden des Libanons zur Hisbollah reicht - gilt es in den Augen der ISIS-Kämpfer und ihrer Unterstützer zu zerstören. Maliki hat gerade eine schwere Niederlage erlitten, die auch eine Schwächung der schiitischen Achse bedeutet. Man kann davon ausgehen, dass größtenteils aus Saudi-Arabien finanzielle Unterstützung und Waffenlieferungen kommen. Auch die Türkei hat ein gewisses Interesse daran, die Schiiten zu schwächen. Waffen von dort gelangen offenbar nach Syrien und weiter in die Hände der ISIS-Kämpfer. Es ist also relativ eindeutig, woher nun der Vormarsch der sunnitischen Rebellen im Irak befeuert wird.

Was halten die nächsten Wochen und Monate wohl für den Irak bereit?

Ich sehe keine Möglichkeit, die Lage zu beruhigen. Im Gegenteil, es deutet alles auf eine Eskalation des Machtkampfes zwischen Sunniten, Schiiten und Kurden hin. Der Bürgerkrieg im Irak, an dessen Ende der Zerfall der staatlichen Einheit stehen könnte, hat bereits begonnen. Es ist nicht abzusehen, wie dieser Konflikt auf friedlichem Wege gelöst werden kann.

Prof. Günter Meyer ist Professor für Geographie an der Universität Mainz und Leiter des Zentrums für Forschung zur Arabischen Welt.