Wiedergutmachung - Polens offene Forderung an Deutschland
18. März 2024Die schwierige Vergangenheit lässt Polen und Deutsche nicht los. 85 Jahre nach dem deutschen Überfall auf Polen, der den Zweiten Weltkrieg auslöste, steht die Frage deutscher Reparationszahlungen an das Nachbarland wieder auf der Tagesordnung. "Die Rechnung zu begleichen, wäre historisch gerechtfertigt", sagte der polnische Premierminister Donald Tusk zu Bundeskanzler Olaf Scholz in Berlin am 12.02.2024. In der Frage der moralischen und materiellen Wiedergutmachung "habe Deutschland noch etwas zu tun", aber nicht so, dass es "in Zukunft zum Verhängnis" werde und die deutsch-polnischen Beziehungen belaste, fügte Tusk hinzu. Zuvor hatte auch der polnische Außenminister Radoslaw Sikorski seine Amtskollegin Annalena Baerbock dazu aufgefordert, das schwierige historische Erbe "kreativ anzugehen".
Streit um Reparationen
Die Forderungen nach Entschädigung sind nicht neu. Acht Jahre lang hatte die rechtsnationale PiS-Regierung versucht, mit antideutscher Rhetorik innenpolitisches Kapital zu schlagen. Der Vorsitzende der PiS-Partei, Jaroslaw Kaczynski, betonte immer wieder, dass Deutschland seine historische Rechnung noch nicht beglichen habe. Laut eines Gutachtens schulde Deutschland Polen umgerechnet mehr als 1,3 Billionen Euro: Für die geleistete Zwangsarbeit von rund 2,1 Millionen Polen, den Verlust der Ostgebiete an die Sowjetunion und die verlorenen Biografien von 196.000 zwangsgermanisierten Kindern.
Im September 2022 hatte der polnische Sejm eine Resolution verabschiedet, die Deutschland zur Übernahme von Verantwortung aufforderte - auch mit Stimmen der damaligen Opposition um Donald Tusk. Die Opposition bestand jedoch darauf, das Wort "Reparationen" durch "Wiedergutmachung" zu ersetzen. Politische Gegner versuchen Tusk wegen dieser Frage als "Staatsverräter" und "Agenten Berlins" zu diskreditieren. Polen hatte 1953 auf Reparationen, also Forderungen von Staat zu Staat, verzichtet. Das ist die herrschende Meinung von Juristen und Historikern aus beiden Ländern. Unberührt davon bleiben individuelle Entschädigungsansprüche der NS-Opfer.
In der diplomatischen Note Polens von 2022 an Deutschland, 50 weitere Staaten, die UN, die NATO und die USA, die die PiS-Regierung nicht öffentlich machen wollte, war von Reparationen keine Rede - wie später herauskam. Damals besuchte der Reparationsbeauftragte der polnischen Regierung Arkadiusz Mularczyk Berlin. Seine Forderung nach einer Bundestagsdebatte zu Entschädigungszahlungen an Polen, wie im Falle Griechenlands, blieb unerfüllt.
Seit dem Regierungswechsel in Warschau kehrt die Reparationsdebatte zurück. Präsident Andrzej Duda hatte Ende vergangenen Monats bei der Verleihung von Ehrenorden an die Autoren des Gutachtens über Kriegsschäden, den Verzicht Tusks auf Reparationsforderungen als "eine Schande" bezeichnet. Er stellte die Verzichtserklärung Polens aus dem Jahr 1953 in Frage, die von Deutschland als bindend betrachtet wird.
Warum für Polen auch nach der Wende die Reparationsfrage ein Tabu war, erklärt Markus Meckel. Als erster demokratischer DDR-Außenminister hat er an den 2+4-Verhandlungen der beiden deutschen Staaten mit den Alliierten teilgenommen. "Es war strategisch klug, auf Reparationen zu verzichten", sagte Meckel im DW-Interview. "Damals hatte die Grenzfrage absolute Priorität. Wer heute wieder diese Frage aufwirft, der riskiert, dass Nationalisten in beiden Ländern die Grenzfrage wieder zum Thema machen könnten."
Den Schalter umlegen
Die Reparationsfrage sei völkerrechtlich abgeschlossen, moralisch aber immer noch offen. Diese Meinung herrscht heute sowohl in Berlin wie auch in Warschau vor. In der polnischen Hauptstadt bestätigte Vize-Außenminister Wladyslaw Teofil Bartoszewski, dessen Vater Auschwitz-Häftling und Außenminister war, im Radiosender RMF FM am 22.01.2024, dass sein Ressort an einem Wiedergutmachungskonzept arbeitet. Zuständig dafür sei der Staatsekretär für Europaangelegenheiten, der erfahrene Diplomat Marek Prawda, polnischer Ex-Botschafter in Deutschland und bei der EU.
Auch Berlin äußert Bereitschaft zur Kooperation: "Zu Fragen der Erinnerung und der Aufarbeitung der bewegten gemeinsamen Geschichte stehen wir mit der polnischen Seite in einem konstruktiven und partnerschaftlichen Austausch", erklärte der Sprecher des Auswärtigen Amtes gegenüber der DW. "Diesen wollen wir zukunftsorientiert und gemeinsam mit Polen gestalten. Zugleich gilt weiter, dass die Reparationsfrage aus unserer Sicht abgeschlossen ist." Auch die Wiederaufnahme der durch PiS unterbrochenen bilateralen Regierungskooperationen ist wieder auf dem Tisch. Deutschland und Polen sprechen auch zusammen mit Frankreich wieder trilateral, im Format des Weimarer Dreiecks.
Konkrete Ansprüche und symbolische Gesten
Deutschland hätte viele Möglichkeiten, Polen gegenüber eine Wiedergutmachung zu leisten, erklärt Nyke Slawik (Bündnis90/Die Grünen), deren Vater aus Polen stammt. "Alle demokratischen Parteien im Bundestag stimmen überein, die Zusammenarbeit mit Polen zu vertiefen", erklärt die Bundestagsabgeordnete. An erster Stelle nennt Slawik die Entschädigung für individuelle Opfer. Konkret wird dabei über einen Rentenfonds und die Übernahme von Kosten beispielsweise für Medikamente und die Behandlung von etwa 45.000 Polen diskutiert. Slawik wünscht sich auch mehr Tempo beim Bau des Deutsch-Polnischen Hauses im Zentrum von Berlin.
Slawik sieht Deutschland in der Pflicht, sich für Polens verlorene Kulturgüter einzusetzen. Ein Paradebeispiel ist gerade der Wiederaufbau des Sächsischen Palasts in Warschau, den die deutschen Besatzer nach der Niederschlagung des Warschauer Aufstandes 1944 in die Luft gesprengt hatten.
Gemeinsame Sicherheit statt Papierkrieg
Markus Meckel, einer der Architekten der Versöhnung zwischen beiden Nationen, will Polen mehr Sicherheitsgarantien geben. Angesichts des russischen Angriffs auf die Ukraine, hält Meckel eine engere sicherheitspolitische Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Polen für unabdingbar und plädiert für mehr deutsche Präsenz an der Ostflanke der NATO. Meckel geht weiter als viele deutsche Politiker und fordert darüber hinaus, dass Deutschland sich zusammen mit Polen für die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine einsetzt.
Das Thema Reparationen bleibt im deutsch-polnischen Verhältnis weiter auf der Tagesordnung, auch wenn es jetzt Wiedergutmachung heißt. In den vergangenen acht Jahren war Berlin angesichts der Billionen-Forderungen der Vorgängerregierung in Warschau auf Distanz gegangen. Heute ist dagegen in der deutschen Hauptstadt wieder Gesprächsbereitschaft zu spüren, auch über die schwierigsten Themen.
Korrektur: Wir haben den Namen des früheren polnischen Außenministers Wladyslaw Bartoszewski korrigiert, der versehentlich falsch geschrieben war.