Kosovo: Die Tradition begünstigt Cybermobbing
4. Juli 2024Ardiana Thaci hatte nicht geahnt, dass ihr investigativer Fernsehbericht solche Konsequenzen für sie persönlich haben würde. Die prominente kosovarische Journalistin hatte nicht damit gerechnet, dass sie selbst zum Opfer von Cybergewalt werden würde. In Mittelpunkt ihres Berichts, den der private TV-Kanal Klan Kosova im Mai dieses Jahres ausstrahlte, standen die "Albkings", eine Gruppe von Männern, die sich auf der Plattform Telegram zusammengeschlossen hatten. Der Vorwurf der Journalistin: Diese Männer posten unerlaubt intime Bilder und Videos von Frauen und Mädchen, um sie zu beleidigen, einzuschüchtern und an Informationen über sie heranzukommen.
Thaci beschrieb auch die Vorgehensweise der zeitweise über 100.000 Mitglieder umfassenden Gruppe: In den Telegram-Chat schicken die Männer zum Teil intime Fotos von Frauen, die sie entweder kennen oder heimlich fotografiert oder deren Bilder sie aus sozialen Medien kopiert haben. Wer die Personen kennt, postet dann Telefonnummern oder andere private Details dazu. Die Mitglieder der Gruppe sowie ihre Opfer leben hauptsächlich in Kosovo und Albanien. Doch die Fotos und Videos wurden auch in benachbarten Ländern geteilt.
Im Visier der Albkings
Nach der Veröffentlichung ihrer Recherche geriet Thaci selbst in das Visier der Albkings. Eines der Mitglieder fand ihre Telefonnummer heraus und veröffentlichte sie. Seither wird die Journalistin mit Anrufen bombardiert. Die anonymen Anrufer fragen dann zum Beispiel: "Wie viel kostet es, mit Ihnen zu schlafen?"
Auch Thacis Kinder werden von den Belästigungen nicht verschont. "Zum Beispiel habe ich mir verhangenen Sonntag Sorgen gemacht, als um acht Uhr morgens jemand mit einer Nummer aus einem EU-Land anrief und mein fünfjähriger Sohn ans Telefon ging, während ich noch schlief", berichtet Ardiana Thaci bei einem Treffen in der kosovarischen Hauptstadt Pristina. Auch dieser anonyme Anrufer bedrängte die Journalistin mit obszönen Fragen. Für sie sei es unverständlich, dass er nicht davor zurückgeschreckt sei, ihr Kind für seine Zwecke einzuspannen.
Der Journalistenverband Kosovos sieht in der Veröffentlichung von Thacis Telefonnummer eine Form der Rache der Albkings, die nicht nur Ardiana Thacis Sicherheit gefährde, sondern auch als Versuch diene, sie einzuschüchtern, ihren Ruf zu schädigen und sie zum Schweigen zu bringen.
Häusliche Gewalt und Cybergewalt
Im Juni 2024 gab es dann einen weiteren spektakulären Fall: Das Nachrichtenportal Kallxo.com veröffentlichte einen Bericht über einen Fall häuslicher Gewalt, bei dem eine Frau und ihr Vater verletzt wurden. Nach Recherchen der Autorin des Berichts nahmen weder die Polizei noch die Staatsanwaltschaft den Fall ordnungsgemäß auf. Obwohl die Redaktion den Namen der Journalistin geheim hielt, um sie vor Nachstellungen zu schützen, wurde ihre Identität schnell öffentlich und sie Opfer von Cybergewalt.
Kreshnik Gashi, Chefredakteur bei Kallxo.com, erinnert sich: "Wenige Stunden nach der Veröffentlichung der Recherche wurde die Nummer unserer Kollegin zusammen mit ihrem Foto im Telegram-Netzwerk Albkings veröffentlicht, mit dem Hinweis, dass man sie anrufen könne." Die Folge seien Hunderte von Anrufen bei der Kollegin gewesen. Dabei habe es sich größtenteils um sexuelle Belästigung und sexuelle Aufforderungen gehandelt. Die Polizei hat mittlerweile in diesem Fall vier Täter festgenommen.
Ende Juni wurden sieben Administratoren der Albkings verhaftet und die Telegram-Gruppe geschlossen. Chefankläger Zejnullah Gashi kündigte an, die Fälle zu untersuchen und die Täter vor Gericht zu bringen. Nach Auskunft von Betroffenen wurde mittlerweile jedoch eine neue Gruppe gegründet. Auf Telegram ist Albkings, Stand Anfang Juli 2024, mit fast 20.000 Abonnenten präsent.
Frauen zählen nicht
Dass Journalistinnen betroffen sind, ist für die Psychologin Kaltrina Ajeti nicht überraschend. Denn sie stehen als selbstbewusste und in der Öffentlichkeit präsente Frauen für den Wandel der Gesellschaftsordnung Kosovos: "Die wirtschaftliche Unabhängigkeit der Frauen in der kosovarischen Gesellschaft hat zu einer Krise der Männlichkeit geführt. Bisher schufen und dominierten Männer die Gesellschaftsordnung", sagt sie. Und das habe weitreichende Auswirkungen: "Die patriarchale Mentalität, die Dominanz im sexuellen Bereich beansprucht, akzeptiert selbstbestimmte Frauen nicht."
Wie zum Beweis der Aussage der Psychologin Kaltrina Ajeti liest sich die Debatte um künstliche Befruchtung vom April dieses Jahres. Die feministische Aktivistin Zana Avdiu hatte sich mit dem Slogan "Wir brauchen keine Männer" für den Einsatz künstlicher Befruchtung engagiert und damit das Selbstverständnis der kosovarischen Männer angegriffen. Ein Gesetz, das unverheirateten Frauen den Zugang zu künstlicher Befruchtung ermöglicht hätte, scheiterte im Parlament, weil eine Mehrzahl der Abgeordneten die Sitzung verlassen hatte und so die erforderliche Stimmenzahl nicht erreicht wurde. Enttäuscht fasste die Frauenrechtlerin Avdiu damals die Debatte in Kosovo mit drei einfachen Worten zusammen: "Frauen zählen nicht!"
Mobbing gegen Frauen
Die digitale Gegenwehr der Männer gegen die empfundene Bedrohung durch selbstbestimmte Frauen folgt immer dem gleichen Muster: absichtliche und wiederholte Schikanen, Bedrohungen oder Bloßstellen über das Internet oder soziale Medien. Die Psychologin Kaltrina Ajeti beschreibt die Albkings folgendermaßen: "Eine Gruppe von Monstern, die ihre Wünsche und Egos befriedigen, indem sie die Figur des anderen verunglimpfen, in diesem Fall das Geschlecht, das sie als schwächer und für einen bestimmten Zweck gedacht ansehen."
Dabei spielt die Digital-Technologie den Männern in die Karten. Über das Internet können Bilder, Videos und Kommentare in Sekunden verbreitet werden. In der Telegram-Gruppe der Albkings erzielen Inhalte, in denen Frauen und Mädchen gedemütigt werden, Millionen Klicks. Nach Angaben der kosovarischen Polizei wurden in diesem Jahr alleine 32 Fälle von unerlaubten Veröffentlichungen von Fotografien und Videos angezeigt. Die Dunkelziffer ist aber vermutlich sehr viel höher. Die Videos wurden auch über die Plattform TikTok in Bosnien und Herzegowina, Kroatien, Montenegro, Nordmazedonien, Serbien und Slowenien geteilt.
Konservative Erziehung, sexuelle Frustration
Dabei will die Psychologin nicht alle Männer in Kosovo für die Taten der Albkings verantwortlich machen. Und sie versucht auch, die Hintergründe zu verstehen. Die kosovarischen Männer seien geprägt von der Erziehung in ihrem Elternhaus und den Werten, die sie dort erfahren hätten. So gilt traditionell, dass Frauen keinen Sex vor der Ehe haben dürfen. Vor allem auf dem Land führt ein Verstoß dagegen sofort zu Gerüchten und Verunglimpfungen der gesamten Großfamilie.
"Wenn wir die Art und Weise berücksichtigen, wie die meisten Jungen in der kosovarischen Gesellschaft aufwachsen, wo die sexuelle Frustration groß ist, aber angemessene Informationen über die sexuelle Entwicklung rar sind, führt das natürlich zu einem Trauma, einer Frustration, die dann auf das andere Geschlecht projiziert wird."
In den vergangenen Jahren hat Cybermobbing in Kosovo stark zugenommen. Nach offiziellen Zahlen gab es im Jahr 2023 mehr als 450 gemeldete Fälle, doppelt so viele wie im Jahr 2019. Doch Gesetze zur Bekämpfung der Kriminalität im Netz lassen noch auf sich warten.