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Konrad-Wolf-Preis für Márta Mészáros

Jochen Kürten
18. Oktober 2017

Die ungarische Regisseurin Márta Mészáros ist eine Pionierin des europäischen Kinos. Ihre politisch-persönlichen Filme haben immer auch mit ihrer eigenen Biografie zu tun. Nun wird sie mit dem Konrad-Wolf-Preis geehrt.

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Marta Meszaros
Bild: Imago/Pixsell

Die ungarische RegisseurinMárta Mészáros bekommt in diesem Jahr den Konrad-Wolf-Preis für ihr filmisches Lebenswerk, wie die Berliner Akademie der Künste am Mittwoch (18.10.2017) anlässlich der Preisverleihung mitteilte. Als Pionierin des osteuropäischen Films ist sie die erste Frau, die 1968 in ihrer Heimat Ungarn einen Spielfilm drehen konnte. "Die Arbeit an etwa 60 Filmen wird zu einer lebenslangen Suche nach einem Ausdruck für ihre eigene Biografie, und so auch für das Leben und Werden der Menschen im 20. Jahrhundert", urteilte die Preisjury in Berlin.

Filmstill - Das Mädchen, 1968
Die ungarische Sängerin und Schauspielerin Kati Kovács spielt eindrucksvoll die junge Erzsi in "Das Mädchen" (1968)Bild: goEast

Der Konrad-Wolf-Preis wird jedes Jahr von der Akademie der Künste in Berlin "für herausragende Leistungen auf dem Gebiet der darstellenden Kunst und der Film- und Medienkunst" verliehen. Er ist nach Konrad Wolf benannt, einem der begabtesten Filmregisseure der DDR, der viele bekannte DEFA-Filme ("Prof. Mamlock", "Solo Sunny")  gedreht hat. Wolf war zu DDR-Zeiten Präsident der Ost-Berliner Akademie, 1981 rückte er in das ZK der SED auf. Sein Bruder Markus Wolf war Chef der DDR-Spionageabwehr. Bekannte Preisträger waren bisher: Ken Loach, Michael Haneke, Lars von Trier, Andres Veiel, Edgar Reitz und - posthum - der Regisseur Christoph Schlingensief. Der Preis ist mit 5000 Euro dotiert.

Mit echten Menschen in Kontakt treten

Márta Mészáros hat zahlreiche Dokumentationen inszeniert. Für sie sei es immer wichtig gewesen, sowohl Spiel- als auch Dokumentarfilme zu machen, betont sie im Gespräch mit der Deutschen Welle: "Die Geschichte Osteuropas ist ziemlich kompliziert", sagt Mészáros und zählt die zahlreichen politischen Umbrüche in der jüngeren ungarischen Geschichte auf: "Zweiter Weltkrieg, Horthysmus, sanfter Kommunismus, die Zeit unter János Kádár etc."

goEast-Filmfestival - Diary for my children
Ungarische und persönliche Geschichte: Mészáros Film "Tagebuch meiner Kindheit" von 1984Bild: goEast Filmfestival

Filme über die Gegenwart zu machen, so Márta Mészáros, sei für sie deshalb ohne ihre dokumentarischen Arbeiten gar nicht denkbar gewesen: "Man muss mit echtem Menschen in Kontakt gewesen sein, um Geschichte zu verstehen." Im Gegensatz zu ihren männlichen Kollegen, Regisseuren wie Miklós Jancsó und Istvan Szabo, die über die Geschichte große philosophische Tableaus gedreht hätten, habe sie sich eher unmittelbar zu den Menschen hingezogen gefühlt. Mittlerweile kann die 86-Jährige, die immer noch aktiv ist, auf ein sechs Jahrzehnte währendes Filmschaffen zurückblicken.

Mészáros vereinigt in ihren Spielfilmen auf einzigartige Weise persönliches Schicksal und offizielle Geschichtsschreibung. In ihrem Werk kommt Privates und Politisches zusammen, inhaltlich wie ästhetisch. Das hat seinen Grund.

Schicksalsschläge finden sich in ihren Filmen wieder

Geboren 1931, nehmen ihre Eltern sie 1936 mit in die Sowjetunion - Ungarn steht dem Nationalsozialismus nah. In der Kirgisischen Sozialistischen Sowjetrepublik soll der Vater eine Kunstakademie aufbauen, doch er gerät in das Fadenkreuz der stalinistischen Säuberungen. Der Vater wird hingerichtet, die Mutter stirbt kurz darauf in einem Krankenhaus.

Das junge Waisenkind wird von einer Pflegemutter erzogen, mit ihr kehrt sie nach dem Zweiten Weltkrieg nach Ungarn zurück. In Moskau studiert Mészáros dann in den 1950er Jahren Film und beginnt Kurz- und Dokumentarfilme zu inszenieren. Erst später kommt sie zum Spielfilm. In ihren Arbeiten kommt die Regisseurin dann immer wieder auf die eigene Biografie zurück: Kinder, die ihre Eltern suchen, Adoptionen, Protagonisten, die unter politischen Druck geraten, Frauen auf der Suche nach Identität - das waren und sind ihre Themen bis heute.

Filmstill -  Tagebuch für meine Lieben, 1987 (Rollstul-Szene)
Im zweiten "Tagebuchfilm", "Tagebuch für meine Lieben" (1986) spinnt die Regisseurin die Geschichte fortBild: goEast

Insbesondere auf die Rolle der Frau in der Gesellschaft habe sie mit ihren Filmen blicken wollen, erzählt die Regisseurin: "Neben den sozialen Fragen hat mich immer interessiert: Warum ist ausgerechnet in Ungarn das Frauen- und Familienbild so extrem konservativ?" Das sei selbst in den Nachbarländern Polen oder Tschechien nicht so. Erst neulich habe Präsident Viktor Orbán noch gesagt, dass Frauen nicht regieren sollten, weil ihnen dazu die Kraft fehle.

Gründe für ein konservatives Familienbild

Und warum ist das so? Mészáros hat da nur Vermutungen: "Das Familienbild in Ungarn ist sehr feudalistisch geprägt." Auch die ungarische Sprache spiele eine große Rolle, die eine sehr spezielle sei, ohne Anbindungen an andere Sprachräume. "Es gibt nur wenige Übersetzungen in andere Sprachen - von Deutschland einmal abgesehen, wo große Autoren wie Imre Kertész oder Péter Nádas viel übersetzt worden sind." Auch die 150-jährige Herrschaft unter dem Osmanischen Reich spiele eine Rolle. Durch all diese Einflüsse hätten viele Ungarn eine Art Komplex entwickelt, mit einem sehr aggressiven Unterton.

Filmstill - Tagebuch für meinen Vater und meine Mutter, 1990 (Panzer auf der Strasse)
Abschluss der Tagebuch-Trilogie: "Tagebuch für meinen Vater und meine Mutter" (1990): Szenen vom Aufstand von 1956Bild: goEast

Wohl selten hat es im 20. Jahrhundert ein Werk eines europäischen Filmkünstlers gegeben, bei dem die eigene Biografie so eng mit der Geschichtsschreibung verknüpft und dann auf die Leinwand gebannt worden ist wie bei dieser ungarischen Regisseurin. Auch ästhetisch hat Márta Mészáros in ihren Filmen die Verschmelzung von Realität und Fiktion weit vorangetrieben: Sie vermischte Spielszenen mit Dokumentarischem, stellte fiktive Sequenzen und Wochenschaumaterial nebeneinander.

Die legendäre Tagebuch-Trilogie der Márta Mészáros

Besonders deutlich wird das in der sogenannten "Tagebuch-Trilogie", drei Spielfilmen, die in den Jahren zwischen 1984 und 1990 entstanden sind und in denen die Regisseurin das eigene Leben und das ihrer ungarischen Heimat zu einem einzigartig dichten Erzählteppich zusammenwebt: "'Tagebuch für meine Kinder', 'Tagebuch für meine Lieben' und 'Tagebuch für meinen Vater und meine Mutter' sind ebenso leidenschaftliche wie kritische Studien über die Entwicklung einer jungen Frau im Rahmen einer Gemeinschaft und Nation und zugleich Autobiografie, Bekenntnis, Dokument und historisches Quellenmaterial", fasst die Mészáros-Spezialistin Catherine Portuges von der University of Massachusetts die Trilogie der Regisseurin zusammen.

Konrad Wolf Regisseur vom Film Ich war neunzehn
Namensgeber des Preises: der DDR-Regisseur Konrad WolfBild: picture-alliance/dpa

Ausgezeichnet in Berlin, Cannes und Venedig

Die Filme von Márta Mészáros werden weltweit bei Festivals ausgezeichnet. So gewinnt sie 1975 den Goldenen Bären bei der Berlinale, ein Silberner sowie die Berlinale-Kamera kommen später hinzu. Auch in Cannes, Venedig, San Sebastian, Moskau und im tschechichen Karlsbad sammelt sie Preise.

In ihrer Heimat dagegen findet sie kaum Anerkennung. Man habe sie als Bedrohung empfunden, meint die Regisseurin: "Ich kam nach dem Krieg aus Russland, das hat viele irritiert, das hatte für manche etwas Geheimnisvolles." Im Ausland seien ihre Filme wesentlich mehr geschätzt worden: "Erst als es weltweit Preise gab, hat man mich in Ungarn akzeptiert."

Keine Feministin - die Rolle der Frau aber stets im Blick

Auch wenn Mészáros sich ganz bewusst nicht als feministische Filmemacherin sieht, so hat das Beharren auf weiblicher Unabhängigkeit, sichtbar in den starken und selbstbewussten Protagonistinnen in ihren Filmen, viele männliche Zuschauer irritiert. Márta Mészáros hat vieles vorweggenommen, was erst Jahre später Einzug hielt im europäischen Kino der Regisseurinnen.

Deutschland Akademie der Künste Berlin Gebäude
Ort der Preisverleihung: die Berliner Akademie der KünsteBild: Imago

Es ist keine Übertreibung, wenn man feststellt, dass Márta Mészáros, diese filmische Chronistin ihrer Heimat, eine Jahrhundertgestalt des europäischen Kinos ist. Heute gehört die Regisseurin, die 1968 mit "Das Mädchen" ein so furioses Spielfilmdebüt hinlegte, zweifellos zu den ganz großen Geschichtenerzählerinnen und Filmemacherinnen des Kontinents. Ihr Werk zähle schon lange "zum Pantheon der europäischen Filmkunst", heißt es von Seiten der Berliner Akademie der Künste, wo die Regisseurin nun mit dem Konrad-Wolf-Preis ausgezeichnet wird.

Wir trafen Márta Mészáros im Rahmen des diesjährigen goEast-Filmfestivals (26.4.-02.05.2017) zum Interview. Über die Regisseurin Márta Mészáros hat die Leiterin des goEast-Festivals Gaby Babić in der Zeitschrift "Frauen und Film" einen Essay verfasst. In der Ausgabe "Aufbruch der Regisseurinnen der 60er" (Heft 68) schreiben Autorinnen über Regisseurinnen wie Agnès Varda und Vera Chytilová, erschienen ist sie im Stroemfeld Verlag, ISBN 9783866002685.