Wird der Westbalkan doch noch Teil der EU?
1. November 2022"Es geht es um historische Schritte." Mit diesen markigen Worten hat die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock die Unterzeichnung von drei Abkommen für den 3. November angekündigt. An diesem Tag findet in Berlin eine Westbalkan-Konferenz statt, ein Treffen von Spitzenpolitikern aus Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo, Montenegro, Nordmazedonien, Serbien und der Europäischen Union im Rahmen des "Berliner Prozess".
Dieser Prozess wurde 2014 unter der Ägide der damaligen deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel geschaffen, um die sechs Westbalkan-Staaten an die EU heranzuführen. Doch bisher waren die Treffen vor allem gemeinsame Foto-Termine für Politiker. Diesmal dagegen soll es um so konkrete Dinge die gegenseitige Anerkennung von Personalausweisen, Hochschul- und Berufsdiplomen gehen. Was klingt wie Formalitäten - doch angesichts der Tatsache, dass unter den Unterzeichnern Staaten wie Serbien und Kosovo sind, die sich im Kosovo-Krieg 1999 bekämpften und sich bis heute nicht gegenseitig anerkannt haben, geht es durchaus um Schritte vorwärts für die Menschen auf dem Westbalkan.
Beim Treffen der Außenminister der Westbalkan-Staaten am 21. Oktober im Berliner Auswärtigen Amt machte Baerbock keinen Hehl daraus, dass sie die Aussicht auf die Unterschriften als Verdienst der deutschen Diplomatie sieht. Auch das Kanzleramt ließ es sich nicht nehmen, darauf hinzuweisen, dass Bundeskanzler Olaf Scholz bereits in den ersten Monaten seiner Amtszeit mit allen Regierungs- und Staatschefs des Westbalkans gesprochen und die Region zudem besucht habe.
Das Interesse am Westbalkan ist in den EU-Staaten seit dem russischen Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 erheblich gestiegen. Serbien, aber auch die Republika Srpska, der serbisch dominierte Teil Bosniens, unterstützen Brüssels Politik gegen das Putin-Regime nicht oder nur halbherzig. Auch in anderen Westbalkan-Ländern versucht Moskau, Einfluss zu gewinnen bzw. seine Macht zu vergrößern.
Kleine, aber machbare Schritte
Der politische Analyst Ardian Hackaj vom Tirana Connectivity Forum aus Albanien, der die Ereignisse des Berliner Prozesses verfolgt, sieht die ersten greifbaren Ergebnisse dieses Formats als Verdienst der deutschen diplomatischen Offensive. "Das kontinuierliche Engagement des deutschen Sondergesandten Manuel Sarrazin in der Region, seine regelmäßigen Kontakte mit allen interessierten Parteien sowie ein hochfokussierter Ansatz, der auf kleinen, aber machbaren Schritten aufbaut, haben einen Mechanismus bereitgestellt, der ansonsten fehlt, um den lokalen politischen Willen zu lenken", so Hackaj gegenüber der DW.
Zudem hält es Hackaj für äußerst wichtig, zivilgesellschaftliche Organisationen in den Berliner Prozesses einzubeziehen. Die derzeit in Berlin stattfindenden Formate werden neben drei Treffen auf Ministerebene auch von einer zweitägigen Konferenz von Vertretern zivilgesellschaftlicher Organisationen begleitet.
Raus aus der Sackgasse
Florian Bieber, Professor an der Universität Graz und Leiter des dortigen Zentrums für Südosteuropastudien, meint, dass der Gipfel das Signal aussenden soll, dass Berlin den Berliner Prozess letztlich nicht in eine Sackgasse geführt hat, wie es in den vergangenen Jahren oft schien. Seinen Höhepunkt soll das Treffen am 3.11. mit der feierlichen Unterzeichnung der Vereinbarung im Beisein von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erreichen.
"Die Vereinbarungen sind meiner Meinung nach ein Versuch zu signalisieren, dass sich der Berliner Prozess jetzt mehr auf konkrete Erfolge konzentriert. Der Prozess ist in den letzten Jahren ins Stocken geraten, daher ist es jetzt sehr wichtig, eine Art Erfolg zu erzielen. Sonst sähe alles so aus, als würde alles laufen wie bisher", so Bieber.
Politik in Einklang mit der EU
Die Probleme auf dem Westbalkan sind in den vergangen Jahren nicht kleiner geworden: die instabile politische Lage in Bosnien, Probleme bei der Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien und Albanien und schließlich das größte sicherheitspolitische Problem des Westbalkans: die Normalisierung der Beziehungen zwischen Serbien und Kosovo.
Besonders Serbien steht nicht nur wegen des ungeklärten Verhältnisses zu Kosovo im Fokus, sondern auch wegen des Drucks aus Brüssel, seine Außenpolitik als EU-Beitrittskandidat mit der EU in Einklang zu bringen. Das bezieht sich auf zwei Aspekte: die Harmonisierung des Visasystems und den Beitritt zu den Sanktionen gegen Russland.
Thema Migration "nicht ausgeschlossen"
Der Anstieg der Flüchtlingszahlen auf der Balkanroute steht nicht offiziell auf der Tagesordnung der Westbalkan-Konferenz. Auf Anfrage der DW aber hieß es, es sei "nicht ausgeschlossen", dass auch dieses Thema diskutiert werde.
Alle wichtigen Akteure, die in dieser Frage eine Rolle spielen, sind am 3. November 2022 dabei: Serbien, das Menschen aus Ländern wie Indien oder Tunesien ohne Visum einreisen lässt und ihnen erlaubt, ihre Reise in Richtung EU fortzusetzen; Bosnien, durch das Migranten auf dem Weg in den Westen Europas reisen; und schließlich das EU-Mitglied Kroatien, das im nächsten Jahr den Beitritt zum Schengen-Raum anstrebt und gleichzeitig wegen der Praxis der illegalen "Pushbacks" in die Kritik geraten ist.
Schwerpunkt: Schaffung eines gemeinsamen Marktes
Im Zentrum der Berliner Konferenz aber steht die Schaffung eines gemeinsamen regionalen Marktes (CRM) der sechs Westbalkan-Staaten. Die angekündigten zwischenstaatlichen Vereinbarungen sollen dazu beitragen, diesen mit dem EU-Markt zu verbinden. "Die Abkommen können der Mobilität in der Region und damit auch der wirtschaftlichen Kooperation eine neue Dynamik verleihen und damit einen wichtigen Beitrag zur Schaffung eines gemeinsamen Marktes leisten", meint Anja Quiring vom Ost-Ausschuss der deutschen Wirtschaft.
Wie sich die Vereinbarungen konkret niederschlagen würden, sei derzeit schwer abzuschätzen, so Quiring weiter. Wichtig sei, dass darüber hinaus weitere Harmonisierungen auf rechtlicher und regulatorischer Ebene in der Region weiter vorangetrieben werden. "Die intensivierte intra-regionale Kooperation der sechs Westbalkan-Länder kann aus unserer Sicht wichtige Impulse für wirtschaftlichen Wohlstand in der Region geben."
Alle Gesprächspartner der DW sind sich einig, dass der Abschluss von Verträgen eine Sache ist - und die Umsetzung vor Ort eine ganz andere. "In den vergangenen acht Jahren gab es viele Absichtserklärungen und Beschlüsse, die aber oft nur teilweise umgesetzt wurden", erklärt Florian Bieber und ergänzt: "Erfolg wird daher nicht an unterschriebenen Verträgen gemessen, sondern daran, was daraus alles wird."