Zwischen Traum und Albtraum
2. Dezember 2013Seit der sogenannten Orangenen Revolution vor neun Jahren hat es eine solch riesige Protestwelle in der Ukraine nicht mehr gegeben. Damals, im Winter 2004, gingen die Menschen für Demokratie und die Zukunft ihres Landes auf die Straße. Jetzt demonstrieren die Ukrainer erneut. Wieder geht es um Demokratie und die Zukunft des Landes. Und wieder steht dabei ein Mann im Mittelpunkt: Viktor Janukowitsch. Erneut hat vor allem er es nun in der Hand, ob die Ukraine demokratisch bleibt oder ein autoritärer Staat wird.
Damals protestierten die Menschen gegen Janukowitsch, weil er Präsident werden wollte, aber dafür Wahlen fälschen ließ. Inzwischen ist er der Präsident der Ukraine. Aber die Menschen demonstrieren gegen ihn, weil sie nicht mehr daran glauben, dass er sein Land nach Europa führen will. Und sie demonstrieren gegen ihn, weil sie befürchten, dass er ihnen jetzt nicht nur die europäische Perspektive, sondern auch die Demokratie nehmen könnte.
Eindrucksvoller Protest trotz Polizeigewalt
Hunderttausende Menschen gingen deshalb am Sonntag (01.12.2013) in der Hauptstadt Kiew gegen die Regierung und gegen den Präsidenten auf die Straße. Sie kamen aus allen Teilen der Ukraine. Studenten, Arbeiter, aber auch ältere Leute, sogar Familien mit Kindern - trotz der Sorge, dass die Proteste eskalieren könnten. Eindrucksvoll unterstrichen sie, dass sie es sich nicht verbieten lassen, gegen die Regierung und einem Präsidenten zu protestieren, die die seit Langem vorbereitete EU-Assoziierung der Ukraine plötzlich und unerwartet auf Eis gelegt und stattdessen angekündigt haben, wieder enger mit Russland zu kooperieren.
Schon seit Tagen demonstrieren die Menschen gegen diese Entscheidung. Denn der europäische Traum von Demokratie und Wohlstand nach dem Vorbild der EU-Staaten ist vorerst geplatzt und könnte sogar jetzt in einem Albtraum enden: in staatlicher Unterdrückung nach dem Vorbild der autoritären Nachbarländer Russland und Weißrussland. Das zeigten die schrecklichen Ereignisse in Kiew in der Nacht zum Samstag, als Spezialeinheiten des Innenministeriums mit äußerster Brutalität und ohne Vorwarnung gegen friedliche pro-europäische Demonstranten vorgingen.
Politscher Wendepunkt in Kiew
Die Ukrainer kennen solche Polizeiübergriffe aus Medienberichten über Moskau und Minsk. In ihrem Land aber hat es so etwas seit der Orangenen Revolution nicht mehr gegeben. In der Hauptstadt Kiew verging bislang praktisch keine Woche ohne irgendeine Demonstration oder Kundgebung. Die Ukrainer haben sich daran gewöhnt, ihr demokratisches Recht auf Versammlungsfreiheit kreativ und bunt zu nutzen. Aber ausgerechnet jetzt, wo es um die für die Ukraine so wichtige Frage einer EU-Assoziierung geht, die die Menschen sehr beschäftigt, werden Polizeiknüppel gegen Demonstranten eingesetzt.
Das könnte ein politischer Wendepunkt sein, den die Menschen nicht hinnehmen wollen. Auch das zeigt die Großdemonstration in Kiew. Die Ukrainer lassen sich nicht den Mund verbieten. Bislang richteten sich die Proteste in Kiew und anderen ukrainischen Städten vor allem gegen die Entscheidung der Regierung, die EU-Annäherung aufzuschieben. Doch nach der Gewalt gegen friedliche Demonstranten hat das Engagement eine neue Stoßkraft bekommen: Die Demonstranten fordern nicht mehr allein einen Kurswechsel in der Außenpolitik, sie verlangen jetzt den Rücktritt der Regierung und des Präsidenten.
Der Präsident steht unter Druck
Die Opposition, die seit Jahren vergeblich für eine andere Politik in Kiew kämpft, geht gestärkt aus diesen Massenprotesten hervor. Weitere Protestaktionen werden folgen. Derzeit ist unklar, wie die ukrainische Führung darauf reagiert. Präsident Janukowitsch steht unter enormem Druck. Denn auch in den eigenen Reihen regt sich inzwischen offener Protest. Einige Abgeordnete haben seine Partei verlassen. Auch der Leiter der Präsidialverwaltung soll zurückgetreten sein.
Im Jahr 2004 während der Orangenen Revolution akzeptierte Janukowitsch nach langem Zögern den Protest der Menschen. Nun steht er wieder vor einer Entscheidung. Respektiert er weiterhin das Recht auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit? Wie wird er auf die Forderung nach seinem Rücktritt reagieren? Diese Fragen muss er den Menschen in der Ukraine jetzt beantworten. Und er wird damit auch die Antwort geben auf die Frage, ob am Ende der europäische Traum für die Ukrainer doch noch Wirklichkeit wird oder der Albtraum vom autoritären Staat, der niemals zu Europa gehören kann.