Keine Angst vor "Mein Kampf"
30. April 1945, wenige Tage vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Im Bunker der Reichskanzlei in Berlin schießt sich Adolf Hitler eine Kugel in den Kopf. Der Mann, unter dessen Diktatur Deutschland die Welt in einen grausamen Krieg gestürzt und sechs Millionen Juden ermordet hatte. Was dieser Mann vorhatte, hätte man schon rund 20 Jahre zuvor wissen können. Bei einem Gefängnisaufenthalt 1924 hatte Hitler begonnen, ein Buch zu schreiben: "Mein Kampf". Eine Hetzschrift voller Judenhass, in welcher der brutale Eroberungskrieg vor allem in Osteuropa bereits angekündigt wurde.
Dieses Buch kommt nun mit dem Erlöschen des Urheberrechts 70 Jahre nach dem Tod des Autors frei verkäuflich auf den deutschen Markt. Bisher hatte der Freistaat Bayern als Nachlasserbe einen erneuten Druck verhindert. Man wollte so die Verbreitung nationalsozialistischen Gedankenguts unterbinden und zudem Rücksicht nehmen auf die Opfer der NS-Diktatur.
Ein anderes Deutschland
Müssen wir Angst vor diesem Buch und seinen menschenverachtenden Worten haben? Denn Worte können ja stark und gefährlich sein. Ist es nicht unverantwortlich, dieses Buch des Massenmörders Adolf Hitler jetzt frei in deutschen Buchhandlungen verkaufen zu lassen?
Ich meine: nein. Ganz und gar nicht. Denn Deutschland hat sich verändert. Das Deutschland des 21. Jahrhunderts ist nicht mehr das der Weimarer Republik, in der rechte Demagogen mit Hilfe einer geschickten Propaganda die Massen manipulieren konnten. Damals war die Mehrheit der Deutschen noch geprägt von den autoritären Strukturen des Kaiserreiches, der jungen Demokratie standen viele skeptisch oder ablehnend gegenüber.
Aber auch heute jubeln Menschen wieder rechten Parolen zu, mögen Kritiker jetzt einwenden. Ja, das stimmt, das zeigen die Pegida-Demonstrationen oder hasserfüllte Postings in sozialen Netzwerken. Aber das ist heute nicht mehr mehrheitsfähig. Die meisten Deutschen stehen fest auf dem Boden der Demokratie. Deutschland ist - und das sieht man vor allem im internationalen Vergleich - eine stabile Demokratie. Dafür müssen wir immer weiter kämpfen, auch das ist klar. Aber die Demagogie von "Mein Kampf" braucht uns 70 Jahre nach Kriegsende keine Angst mehr zu machen.
Entlarvung durch Kommentare
Sie als solche zu entlarven, ist aber enorm wichtig. Und deshalb ist es gut, dass "Mein Kampf" jetzt direkt in einer wissenschaftlichen Edition veröffentlicht wird, an der ein Team von Historikern des deutschen Instituts für Zeitgeschichte (IfZ) seit Jahren gearbeitet hat. Kommentierungen ordnen den Original-Wortlaut in den historischen Hintergrund ein, ergänzen Informationen zu Personen und Zusammenhängen und "fallen dem Demagogen Hitler ins Wort", wie es der Direktor des IfZ, Andreas Wirsching, im DW-Interview formuliert. Halbwahrheiten und hetzerische Lügen werden als solche offen gelegt.
Das nimmt dem Buch die Aura der Gefährlichkeit, die das Verbot und die Tabuisierung des Buches befördert hatte. Die mythische Verklärung durch Rechtsradikale hat ein Ende, wenn "Mein Kampf" aus dem Dunkel des Verborgenen ans Licht der Öffentlichkeit geholt wird. Jeder kann sich nun selbst ein Bild machen von Hitlers autobiographischer Selbstdarstellung und seinen menschenverachtenden Thesen, die in einer oft schwer erträglichen, verquast-schwülstigen Sprache verfasst sind. Jeder kann rechten Demagogen dann selbst mit logischen Argumenten und einem eigenen Urteil begegnen. Dass rechte Gruppen die kommentierte Edition missbrauchen könnten, ist höchst unwahrscheinlich.
Neuauflage als Gegengift
Denn "Mein Kampf" ist natürlich schon lange überall frei verfügbar - ein paar Klicks entfernt im Internet. Deshalb ist es umso wichtiger, dass die kommentierte Edition jetzt als "Gegengift" zu den im Netz kursierenden Fassungen erscheint. Wie gut diese gelungen ist, wird die sorgfältige Analyse der Edition zeigen. Auch darauf, wer sie kaufen und lesen wird, darf man gespannt sein. Wird es ein breites Publikum sein (wohl eher nicht) oder doch eher historisch Interessierte? Gut ist auch, dass Schulen damit arbeiten werden können. Sowohl die Berliner Bildungsverwaltung als auch das bayerische Kultusministerium haben signalisiert, dass sie für den Einsatz der kritischen Ausgabe an Schulen offen seien - sofern das Ziel die Entlarvung der NS-Ideologie und die Bekämpfung des Rechtsextremismus sei. So wird auch Schülern eine wichtige Quelle zur Geschichte des Nationalsozialismus zugänglich.
Die Rhetorik, die Hitler verwendet hat, funktioniert heute nicht mehr. Aber mit der Frage, wie es zu den furchtbaren Verbrechen der Deutschen während des Nationalsozialismus kommen konnte und wie so etwas in Zukunft verhindert werden kann, damit müssen wir uns weiterhin beschäftigen. Die Lektüre von "Mein Kampf" kann beitragen, darauf Antworten zu finden.
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