"Mein Kampf" für Schüler?
21. Dezember 2015Seit 1945 wird "Mein Kampf" in Deutschland nicht mehr herausgegeben. 2016 jedoch laufen die Urheberrechte aus, mit denen in Deutschland bislang ein Nachdruck verhindert wurde. Das Institut für Zeitgeschichte (IfZ) in München plant derzeit eine kommentierte Ausgabe des Werkes, in dem Hitler die Ideologie der Nazis darstellt und seinen Judenhass ausbreitet.
DW: Herr Kraus, warum sollten Schüler "Mein Kampf" lesen?
Josef Kraus: Ich bin nicht der Meinung, dass das ganze Werk, dieses Pamphlet "Mein Kampf", in der Schule gelesen werden soll. Sondern ich habe vorgeschlagen, dass in der Oberstufe des Gymnasiums und in den Oberstufen der Beruflichen Schulen Auszüge daraus gelesen werden. Ich verspreche mir dabei folgenden Effekt: dass man nämlich die jungen Leute immunisieren kann, widerstandsfähig machen kann gegen extremistische Auffassungen, wenn man ihnen zeigt, wie sich die Katastrophe und die Massenmorde, die wir in den zwölf Jahren deutscher Geschichte 1933-1945 hatten, ideologisch vorbereiten. Man kann auf diese Art und Weise dem Prinzip "Wehret den Anfängen" gerecht werden. Leider ist es so, dass wir nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Ländern einige nicht ungefährliche Wirrköpfe haben, die mobilisieren möchten gegen Ethnien, gegen Religionen.
Denken Sie nicht, dass 16-jährige Schüler immer noch sehr beeinflussbar sind und dass das Lesen von "Mein Kampf" einen falschen Effekt haben könnte?
Das ist eine Frage der Professionalität und des pädagogischen Geschicks der Lehrer. Und das traue ich unseren Lehrern, insbesondere in den Fächern Geschichte und Politik sowie Ethik und Religion schon zu. Man muss das Thema natürlich sensibel angehen. Wir haben zurecht das Thema Nationalsozialismus als einen Kernbestand unseres Geschichtsunterrichts. Und ich würde mir auch wünschen, dass jeder Schulabgänger in Deutschland, also jeder 16-, 17- oder 18-jährige, der die Schule verlässt, vorher einmal mit der Schule - entsprechend vorbereitet und entsprechend besprochen – ein Konzentrationslager besucht. Man sollte den Vorschlag, Auszüge aus "Mein Kampf" zu besprechen, jetzt auch nicht überdimensioniert sehen. Ich stelle mir vor, dass man sich anhand von zwei, drei oder vier Textauszügen einmal zwei oder drei Stunden lang in der Schule damit beschäftigt - eingebettet in einer differenzierten Betrachtung des ganzen Phänomens Nationalsozialismus.
Welche Auszüge des Buchs schweben Ihnen dabei vor?
Das Buch selbst wird ja wohl, wie ich gehört habe, erst einmal nur in einer Auflage von viertausend Exemplaren herauskommen und auch zu einem hohen Preis von 60 Euro. Ich empfehle den 16 Kultusministern, dass sie einen kleinen Reader in Auftrag geben, wo auf 50, 60, 80 Seiten markante Textstellen mit entsprechenden Kommentierungen, mit Quellenangaben, mit Querverweisen zusammengenommen werden. Das wäre für die Schulen sehr, sehr hilfreich. Insbesondere würde ich mir Textestellen wünschen, in denen der Hass gegen die Juden zum Ausdruck kommt und in denen zum Ausdruck kommt, dass Hitler offensichtlich einen großen Krieg im Kopf hatte.
Wäre das nicht gefährlich, besonders, wo momentan Rechtspopulismus und Rechtsextremismus in Deutschland erstarken?
Viel gefährlicher wäre es, wenn man dieses Werk einfach totschweigt oder gar verbietet. Denn heutzutage haben wir durch die Möglichkeiten des Internets für jeden alles zugänglich. Und da ist es mir wichtiger, dass so etwas in der Schule differenziert und kritisch besprochen wird. Denn eines wissen wir auch von vielen verbotenen Schriften, zum Beispiel, wenn sie als jugendgefährdend von der Bundesprüfstelle indiziert sind: Was verboten ist, schafft besondere Neugier, und dann hat man keine Einfluss mehr darauf.
Und die ungefähr 100.000 Juden in Deutschland? Müssten sie sich nicht beleidigt fühlen?
Ich kenne viele Juden, darunter den amtierenden Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, die sich diese Behandlung vorstellen könnten. Die frühere Vorsitzende Frau Knoblauch hat sich dagegen ausgesprochen, es haben sich andere für meinen Vorschlag ausgesprochen. Das kann man unterschiedlich diskutieren. Entscheidend ist, wie man es dann umsetzt. Ich glaube, es ist sehr im Interesse auch unserer jüdischen Mitbürger, dass man mit diesem Teil der deutschen Geschichte ganz authentisch umgeht. Und das hat nichts mit Propaganda zu tun, nichts mit Nostalgie. Sondern es hat damit zu tun, unsere jungen Leute zu immunisieren gegen extremistische Auffassungen. Und selbstverständlich wünsche ich mir auch, dass die jüdischen Mitbürger daran mitwirken, in welcher der Art und Weise wir das in den Schulen behandeln. Und selbstverständlich wünsche ich mir auch, dass beispielweise jüdische Mitbürger dann in entsprechende Unterrichtstunden eingeladen werden.
Josef Kraus ist seit 1987 Präsident des Deutschen Lehrerverbandes. Dieser vertritt nach eigenen Angaben rund 160.000 Lehrer in Deutschland.
Das Gespräch führte Kate Brady.