Vier lange Jahre hat sich die Europäische Union auf die Türkei als Torwächter für Flüchtlinge und andere Migranten verlassen. Jetzt hat der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan wahr gemacht, womit er immer wieder gedroht hat. Die Türkei bringt Asylsuchende und Einwanderer an die Grenze zu den EU-Staaten Griechenland und Bulgarien.
Die gemeinsame Erklärung zur Zurücknahme von Flüchtlingen und Migranten vom März 2016, gemeinhin als "Flüchtlingsdeal" bekannt, hat der türkische Autokrat Erdogan aufgekündigt. Damit will er Politik machen, auf dem Rücken der Flüchtlinge und Migranten, die jetzt an den Grenzen ausharren. Was genau der türkische Präsident, der außenpolitisch in mancherlei Sackgasse steckt, damit erreichen will, ist unklar. Einen besseren "Deal" wird er mit Erpressung wohl kaum bekommen.
Es ist eine Tatsache, dass die Türkei 3,6 Millionen syrische Kriegsflüchtlinge beherbergt. Angesichts der mehreren hunderttausend Menschen aus der syrischen Region Idlib, die demnächst versuchen könnten, in die Türkei zu fliehen, kann man nachvollziehen, dass die Türkei mehr Hilfe fordert und ein Ventil für den "Migrationsdruck" sucht.
EU hat keinen Plan B
Und die Europäer? Das hektische Geschrei nach Sondersitzungen der Außen- und Innenminister der EU und nach mehr Frontex-Grenzschützern ist Heuchelei. Seit vier Jahren wusste die Führung der EU sehr genau, dass die Übereinkunft mit der Türkei eine vorübergehende und wackelige Lösung sein würde.
Die EU-Kommission hat mehrere Anläufe unternommen, in der EU ein besseres Asylsystem und eine Verteilung von Flüchtlingen und Migranten aus Syrien, aus Afghanistan, Iran und vielen afrikanischen Ländern durchzusetzen. Das scheiterte immer wieder am Nein aus den Mitgliedsländern, übrigens nicht nur aus Polen, Ungarn, Österreich oder Italien. In vielen EU-Staaten hat sich eine rechte bis rechtspopulistische Opposition etabliert, die sich weigert, Flüchtlinge aufzunehmen, geschweige denn sich dauerhaft niederlassende Migranten.
Den "Flüchtlingsdeal" mit der Türkei hat die EU nie richtig umgesetzt. Die Verfahren, die 2016 vereinbart wurden und innerhalb weniger Tage oder Wochen abgewickelt sein sollten, ziehen sich in Griechenland ewig hin. Griechenland und die EU-Behörden haben es nicht geschafft, das anständig zu organisieren. Die entsetzlichen Zustände unter anderem im Lager Moria sind die Folge. Oder wollte man diese Bilder produzieren, um eine abschreckende Wirkung auf potenzielle Migranten zu erreichen?
Die EU hat sich auf die Türkei verlassen. Jetzt hat sie keinen Plan B. Die Schließung der Grenzen durch Griechenland und Bulgarien ist der hilflose Versuch, Flüchtlingen und Migranten die Einreise zu verweigern, was auf Dauer nicht gelingen wird. Nach der Flüchtlingskonvention und dem gemeinsamen Asylverfahrensrecht der EU haben Einreisende das Recht auf eine Prüfung, ob sie schutzbedürftige Flüchtlinge oder ob sie Einwanderer sind. Erstere dürften nicht einfach abgewiesen werden und auch nicht in ein Land zurückgeschoben werden, in dem ihnen Verfolgung droht.
Das Ende von Solidarität und Recht
Nach den Erfahrungen von 2015 und 2016, als Flüchtlinge und andere Migranten auf der Balkanroute und über das Mittelmeer in großer Zahl nach Mitteleuropa kamen, wollte die EU eigentlich ein System der Prüfung und Verteilung schaffen, um mit solchen "Wellen" umzugehen. Doch das gibt es nicht. Und jetzt? Eine Mauer bauen (Zäune gibt es schon)? Die Binnen-Grenzen in der EU schließen? Aus der UN-Flüchtlingskonvention aussteigen?
Zu befürchten ist, dass die Mehrheit der EU-Mitglieder einen harten Kurs befürworten wird und die Verantwortung für die Umsetzung auf den Grenzstaaten abladen wird, auf Griechenland, Bulgarien, Kroatien, Slowenien, Ungarn, Österreich, Malta, Spanien und Italien. Adieu europäische Solidarität! Adieu internationales Recht! Adieu Barmherzigkeit!