Ende der Menschlichkeit
Schreie schallen übers Wasser. Verzweifelte Hilfeschreie. Durch das Kameraobjektiv schauen wir aus sicherer Entfernung zu: Wir sehen ein schlaffes weißes Schlauchboot irgendwo im blauen Nichts des Mittelmeers. Wir sehen das Meer der Hände, das sich den Rettern entgegenstreckt: Soldaten in Schutzanzügen, mit Schutzbrillen und Helmen - fast wie Astronauten, die plötzlich auf dem Meer gelandet sind. Die Schreie, die Panik - alles scheint an ihnen abzuprallen. Sie arbeiten mit der Präzision eines Uhrwerks und ziehen die Flüchtlinge aus dem Boot, einer nach dem anderen, ganz langsam, damit es nicht kentert.
Später sehen wir die Geretteten auf Deck: apathische Menschen mit leeren Augen und stumpfem Blick. Erschöpft und ängstlich nach den Stunden in einer kleinen Nussschale. Es ist jene Art Bilder, die auch Jahre nach einem Reportereinsatz im Gedächtnis bleiben, oft für immer.
Perfekt war der Einsatz nie
Im April 2016 sind ein DW-Kollege und ich an Bord des deutschen Marineschiffs "Frankfurt am Main", das als Teil der Operation "Sophia" im Mittelmeer kreuzt. Elf Tage sind wir an Bord, wir beobachten die Rettung von mehreren Schlauchbooten und sehen auch, was dieser Einsatz mit den Soldaten an Bord macht. Mit ihren Gefühlen halten sich viele Soldaten zurück, das wünscht sich die Bundeswehr auch so. Doch in den Blicken, aus den Nebensätzen spüren wir das Mitgefühl, das Bedürfnis, den Flüchtlingen zu helfen. Und nach der Rettung sehen wir Soldaten, die sich nach Stunden aus den Schutzanzügen schälen, schweißnass, am Ende ihrer Kräfte. In diesem Moment bin ich stolz auf die Besatzung, bin ich stolz auf eine Europäische Union, die sich die Rettung von Menschenleben Millionen kosten lässt.
Sicher, "Sophia" war nicht perfekt und sollte eigentlich auch gar keine Rettungsaktion sein. Die Mission hatte das Ziel, die Netzwerke der Schlepper offenzulegen und zu zerschlagen. Das klappte selten, denn die Schlepper dachten leider nicht daran, selbst in die Boote zu steigen. Ging doch mal einer ins Netz, war es ein kleiner Fisch. "Auf See allein lässt sich kein Problem lösen, das an Land entstanden ist", formulierte es damals der Kommandant der "Frankfurt am Main". Kritik gab es an "Sophia"nicht nur deswegen: An Bord der Marineschiffe wurden die Flüchtlinge verhört, ihre leeren Boote versenkt. Die Marine sagte, das sei vom Seerecht gedeckt. Kritiker warfen der Mission dagegen vor, damit das Leben der Flüchtlinge noch mehr zu gefährden, weil die Schlepper auf immer billigere Schlauchboote auswichen.
Seenotrettung ist kein Gnadenakt
Trotzdem war "Sophia" unverzichtbar und ist es bis heute - denn die Rettung von Schiffbrüchigen ist kein Gnadenakt, sondern eine Pflicht des internationalen Seerechts. Auch die vielen privaten Rettungsschiffe, ebenfalls dringend notwendig, machten die Mission nicht überflüssig, im Gegenteil: Eine ganze Reihe Rettungsschiffe hatte gar nicht den Platz, die vielen Flüchtlinge an Land zu bringen und gab sie gern an die Konkurrenz in grau ab - "Taxidienst" nannte es ein Soldat an Bord der „Frankfurt" mit schiefem Lächeln.
Nein, die Seenotrettung auf dem Mittelmeer ist gewiss keine Lösung der Migrationsfrage. Auch "Sophia" war es nicht. Und trotzdem war der Rettungsdienst der Mission im wahrsten Sinne des Wortes alternativlos, genau wie die Einsätze der privaten Retter: Als Ausdruck einer grundlegenden Menschlichkeit, die es verbietet, Mitmenschen einfach ertrinken zu lassen. Das ist Pflicht, Verantwortung, Leitmotiv eines Kontinents, der sich Demokratie, Freiheit und Menschenrechte auf die Fahnen schreibt und sich dafür mit dem Friedensnobelpreis auszeichnen ließ.
Keinerlei Solidarität innerhalb der EU
Werte, die heute nicht mehr viel zu zählen scheinen. Die EU-Mitgliedsstaaten haben "Sophia" zu den Akten gelegt - völlig emotionslos. Der gesellschaftliche Aufschrei blieb aus. Auch die privaten Rettungsschiffe wurden mit fragwürdigen juristischen Tricks an die Kette genommen. Doch die Seerettung ist nicht allein an Italiens neuer rechtspopulistischer Regierung gescheitert, hier trägt die ganze EU Verantwortung - weil sie keine Regelung fand, die Geretteten europaweit zu verteilen. Schon Italiens frühere Regierungen wurden mit der wachsenden Zahl an Geretteten allein nicht mehr fertig und baten um Hilfe. Aber die anderen EU-Staaten hörten einfach weg. Auch das hat den Nährboden für den Wahlsieg der Populisten mit bereitet, die jetzt in Rom regieren.
Nun gibt es kaum noch Retter auf dem Mittelmeer. Doch der naive Glaube, das könnte jeden und jede vor dem lebensgefährlichen Weg nach Europa abschrecken, ist falsch. Es werden sich weiter Menschen auf den Weg machen, in Schlauchbooten, in rostigen Kähnen. Und es werden weiter Menschen ertrinken. "Sophia" war auch eine Reaktion auf viele schlimme Bootsunglücke mit zahlreichen Todesopfern 2014 und 2015. Gut möglich, dass in einigen Jahren der öffentliche Druck in Europa wieder zunehmen wird, eine Rettungsmission einzuführen. Doch all jenen, die bis dahin Tag für Tag in den blauen Wellen des Mittelmeeres ertrinken, wird das nicht mehr helfen.