Sicher, nach allen vorliegenden Informationen haben die Vereinigten Staaten von Amerika recht. Russland verletzt mit seinen 9M729-Raketen den INF-Vertrag über das Verbot landgestützter, atomarer Mittelstreckenraketen. Das bestätigen nach DW-Informationen verschiedene westliche Geheimdienste unabhängig voneinander. Warum also länger an einem Vertragswerk festhalten, das ohnehin nicht mehr eingehalten wird?
Das Drahtseil, auf dem die Welt spätestens seit der Wahl Donald Trumps zum amerikanischen Präsidenten balanciert, verliert ein wichtiges Fangnetz. Denn die USA steigen aus dem INF-Vertrag aus, ohne die realistische Vision für ein Nachfolgeaabkommen. Von Russen und Amerikanern hört man immer wieder, dass die Chinesen die eigentlichen Adressaten dieser Maßnahme seien. Die sind nämlich weitgehend ungebunden an Abrüstungsverträge oder andere begrenzende Vereinbarungen und rüsten massiv auf. Vor allem für Russland ist das ein Problem. Um Richtung Osten Drohpotenzial aufbauen zu können, braucht es nach Moskaus Auffassung landgestützte Mittelstreckenraketen.
Zündeln mit dem Weltuntergang
Auch dagegen kann man aus militärischer Sicht wenig einwenden. Die USA beobachten selbst mit wachsender Sorge die rasant steigenden Rüstungsausgaben und militärischen Fähigkeiten Chinas. Aber wie bitteschön soll nun ausgerechnet der Ausstieg aus einem der letzten großen Nuklearwaffen-Verträge die Lage verbessern? Die Amerikaner machen damit das gleiche wie die Russen: Sie zündeln mit dem Weltuntergang.
Derzeit wird überall der Klimawandel als möglicher Todesstoß für die Menschheit beschworen. Das mag ja auch richtig sein, aber ein erneutes, unkontrolliertes Wettrüsten zwischen Russland und den USA, gepaart mit der neuen militärischen Weltmacht China, lässt die Zukunft noch düsterer erscheinen. Wir alle, insbesondere aber die Europäer als Spielball und potenzielles Schlachtfeld der Großmächte, hatten in der Zeit des Kalten Krieges enormes Glück, dass es zu keinem Atomkrieg kam. Während der Kubakrise 1962 war es fast soweit. Ein Grund, warum dieses furchterregende Szenario vermieden werden konnte, waren die handelnden Personen - nicht zuletzt John F. Kennedy und Nikita Chruschtschow.
Politiker dieser alten, eher besonnenen Schule sind heute ungleich schwerer zu finden an den Schaltknöpfen der Nuklearwaffen. Trump hat sich bis vor kurzem dankenswerterweise bei militärischen Fragen weitgehend herausgehalten und pochte bei der NATO lieber aufs Geld und die Beiträge der Allianzpartner. Das scheint vorbei. Der russische Präsident Putin spielt liebend gern mit dem Feuer im Westen seines Riesenreiches. Denn auch wenn die Argumentation mit der Bedrohung aus China schlüssig ist, so erklärt sie nicht, warum er mit seinen Mittelstreckenraketen im Gesicht der Europäer herumfuchtelt.
Gesucht: weltumspannendes Atomabkommen
Die EU, aber auch der Rest der Welt, steht nun also bald ohne den INF-Vertrag da. Von den großen nuklearen Begrenzung- und Abrüstungsinstrumenten bleibt lediglich der New START-Vertrag übrig, der 2020 ausläuft. Spätestens dann haben wir genau das Gegenteil von dem, was der Globus eigentlich bräuchte: nämlich ein umfassendes, weltumspannendes Abkommen zur Kontrolle von Atomwaffen. Alles andere kann auf Dauer nicht gut gehen, vor allem wenn man bedenkt, dass auch zahlreiche kleinere Länder nukleare Ambitionen hegen.
Damit hinterlassen die aktuellen Weltmacht-Politiker nachfolgenden Generationen eine wahrhaft furchterregende Welt. Viele Menschen in Europa fühlen sich zwar kaum bedroht und die meisten wissen gar nicht mehr, wie sich Krieg anfühlt. Das ist an sich eine wunderbare Sache. Aber die Chancen, dass es dauerhaft so bleibt haben sich mit dem Ausstieg der USA aus dem INF-Vertrag weiter verschlechtert. Der Mensch ist vergesslich - das gilt auch für Nationen und ihre Präsidenten. Russland und die USA müssen sich schnell daran erinnern, mit welch fürchterlich zerstörerischer Kraft sie gerade spielen.