Es geht um Menschen wie Kocher - eine Frau, die zusammen mit ihren Kindern wie ein Stück Vieh auf IS-Märkten verkauft wurde. Die versklavt und vergewaltigt wurde. Immer wieder. Die für eine Zigarette getauscht wurde. Die versuchte, ihren fünf kleinen Töchtern in einem dreckigen Kellerverlies im syrischen Rakka mit einem Nagel und Asche ihre jesidischen Namen in den Unterarm zu tätowieren. Damit die Kinder in der IS-Hölle nicht vergessen, wer sie sind. Es geht um eine Frau, die ihre drei ältesten Kinder bis heute vermisst. Zwei Söhne und eine Tochter.
Die Klauen der Vergangenheit
Kocher hat den Genozid überlebt. Als ich sie im vergangenen Jahr im Nordirak auf dem heiligen Berg der Jesiden in einem Flüchtlingslager traf, quälte sie sich mit Selbstmordgedanken. Es war vor allem die vage Hoffnung auf ein Wiedersehen mit den Verschollenen, die Kocher davon abhielt, sich von den Klauen der Vergangenheit in den Abgrund reißen zu lassen. "Für mich ist es zu spät", sagte sie zu mir, ohne den Satz zu vollenden.
Sie lebt für ihre Kinder weiter. Es ist schändlich, Kocher mit ihrer Vergangenheit alleine zu lassen. Ohne Gewissheit. Ohne Gerechtigkeit.
Ein Kernverbrechen des Völkerrechts
Als die Nationalsozialisten die Juden auslöschen wollten, gab es noch kein Weltstrafgericht, das sich um die sogenannten "Kernverbrechen" des Völkerstrafrechts kümmerte. Das ist heute anders. Seit 2002 ermittelt der Internationale Strafgerichtshof (ICC) in Den Haag zu Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Genozid. Verbrechen, wie sie die Terroristen des sogenannten "Islamischen Staates" begangen haben.
Doch der ICC unterliegt einer großen politischen Einschränkung: Er darf nur dann ermitteln, wenn eine nationale Strafverfolgung nicht möglich oder nicht gewollt ist. Der Irak gehört aber wie die USA, Russland, Syrien, China, Indien oder die Türkei nicht zu den Unterzeichnerstaaten.
Nationaler Egoismus statt internationale Gerechtigkeit
Diese Länder pochen auf ihr Recht, über alle Verbrechen, die innerhalb ihrer Staatsgrenzen verübt werden, selbst zu richten. Sie weigern sich, Hoheitsrechte an das Weltstrafgericht abzutreten. Um mutmaßliche IS-Verbrecher trotzdem in Den Haag anzuklagen, bräuchte es eine Resolution des Weltsicherheitsrates.
Nur das höchste UN-Gremium könnte den internationalen Strafgerichtshof beauftragen, über die souveräne Entscheidung des Irak hinwegzugehen. Der Sicherheitsrat hätte auch die Möglichkeit, ein Sondertribunal einzurichten. Wie nach dem Völkermord in Ruanda. Doch dazu fehlt der politische Wille. Auf allen Seiten.
Im Irak werden mutmaßliche IS-Schergen massenhaft verurteilt. Wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung verhängen die Richter in Schnellverfahren oft die Todesstrafe.
Vieles findet unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Ohne die Standards eines Rechtsstaats, die eine Siegerjustiz verhindern könnten. Ohne, dass es zu einer systematischen und akribischen Aufarbeitung der Vergangenheit käme, die das Leid von Überlebenden wie Kocher lindern könnte. Ohne, dass Akten und Dokumente für die Geschichtsschreibung entstehen, damit nicht vergessen wird, was geschah. Der Genozid an der jesidischen Minderheit spielt dabei bisher kaum eine Rolle. Denn die Jesiden lebten schon immer am Rand der irakischen Gesellschaft.
Das ist die bittere Erkenntnis nach diesem Völkermord, der vor genau fünf Jahren begann: Die Aufarbeitung von Verbrechen an der Menschheit bleibt weitgehend eine fragmentierte, nationale Angelegenheit. Es wird in vielen Ländern gegen den IS ermittelt. Während der Internationale Strafgerichtshof das Versprechen, für internationale Gerechtigkeit zu sorgen, nicht einlösen kann.