Die Jesiden fünf Jahre nach dem Genozid
1. August 2019Keine Gruppe hat so unter dem IS-Terror gelitten wie die Jesiden. Die Kämpfer der Terrormiliz fielen Anfang August 2014 im Norden des Irak ein, um die jesidische Minderheit auszulöschen. Es folgten: Massenmord an den Männern, Verschleppung und Versklavung der Frauen und Kinder, die Flucht Zehntausender Menschen und der Beginn des internationalen Kampfes gegen den selbsternannten "Islamischen Staat" im Irak und Syrien.
Fünf Jahre später fordern drei deutsche Politiker über Parteigrenzen hinweg, den Jesiden stärker zu helfen als bisher. "Wir wollen jene wenige Hundert besonders Schutzbedürftigen, allen voran jesidische Frauen und Kinder, die im Irak und in Syrien keine realistische Aussicht auf eine adäquate Behandlung und einen gemeinsamen Neubeginn haben, in Deutschland aufnehmen", schreiben Grünen-Chefin Annalena Baerbock, Volker Kauder von der christlich-konservativen CDU und Thomas Oppermann von den Sozialdemokraten in einem Gastkommentar für die Zeitung Welt.
Wer sind die Jesiden?
Die Jesiden des Nahen Ostens sind eine seit Jahrhunderten verfolgte ethnisch-religiöse Minderheit. Einige begreifen sich als ethnische Kurden, andere als eigenständig. Die meisten sprechen das kurdische Kurmandschi. Sie siedeln vor allem im Norden des Irak und im Norden Syriens. In ihrer eigenen Geschichtsschreibung berichten sie von Dutzenden Auslöschungsversuchen allein während des Osmanischen Reiches.
Die Jesiden halten ihre Religion für die älteste der Welt. Sie glauben an einen Gott, aber sie verehren auch Engel. Die Terrormiliz IS brandmarkte die Jesiden als "Ungläubige" und "Teufelsanbeter".
Anders als Muslime, Christen oder Juden besitzen die Jesiden keine heilige Schrift, sondern geben ihr religiöses Wissen mündlich weiter. Sie missionieren nicht. Jeside kann man nur durch Geburt in eine rein jesidische Familie werden. Wesentliches Element ihres Glaubens ist die Wiedergeburt. Im Laufe der Jahrhunderte nahmen die Jesiden aber auch viele Elemente aus anderen Religionen auf, vor allem aus dem Islam.
Vor dem Beginn des Angriffs am 3. August 2014 lebten rund eine halbe Million Jesiden im Irak. Die große Mehrheit siedelte in der nördlichen Region Sindschar unweit ihres heiligen Berges, der den gleichen Namen trägt.
Die größte jesidische Auslandsgemeinde lebt mit über 150.000 Menschen in Deutschland.
Was geschah im August 2014?
In den frühen Morgenstunden des 3. August 2014 überfielen tausende IS-Dschihadisten das Hauptsiedlungsgebiet der Jesiden um das Sindschar-Gebirge. Wenige Wochen zuvor hatte der IS die irakische Metropole Mosul erobert und moderne Waffen erbeutet. Die Milizen der kurdischen Selbstverwaltung im Nordirak räumten angesichts des IS-Vorstoßes ihre Positionen und ließen die Jesiden ohne Schutz zurück.
Der Vernichtungsfeldzug war systematisch und geplant: Jesidische Männer und Jungen über 12 Jahre wurden zusammengetrieben und von den Frauen und Kleinkindern getrennt. Geschätzte 10.000 Menschen wurden ermordet und in Massengräbern verscharrt. In der Region Sindschar sind mehr als 70 jesidische Massengräber entdeckt worden.
Bis zu 7000 Frauen und Kinder wurden verschleppt. Die meisten von ihnen konvertierten unter Todesandrohung zum Islam. Das schützte sie aber nicht davor, auf Sklavenmärkten in Mosul, Rakka oder auch online verkauft zu werden. Der IS erstellte dazu eigens ein Gutachten, das die Versklavung von jesidischen Frauen und Kindern als Kriegsbeute religiös rechtfertigte.
Etwa 50.000 Jesiden suchten Anfang August 2014 Schutz auf ihrem heiligen Berg Sindschar. Dort wurden sie vom IS eingekesselt und belagert - bei sengender Hitze und ohne Zugang zu Wasser. Ihr dramatischer Überlebenskampf bewegte den damaligen US-Präsidenten Barack Obama dazu, aus der Luft Hilfsgüter abzuwerfen. Außerdem ordnete er Luftschläge gegen IS-Stellungen im Nordirak an. Es war der Beginn der internationalen Koalition gegen den IS.
Kurdische YPG-Milizen aus Syrien kämpften den Eingeschlossenen auf dem Berg schließlich mit US-Luftunterstützung einen Fluchtkorridor frei.
Wo sind die Jesiden heute?
Die Jesiden sind ein Volk ohne Heimat. Etwa 300.000 leben in den großen Flüchtlingslagern im Nordirak rund um die Stadt Dohuk. Der IS ist zwar militärisch besiegt, doch die Sicherheitslage in der Region Sindschar ist labil.
Offiziell ist die irakische Zentralregierung für die Sicherheit zuständig. Tatsächlich teilen sich die irakischen Sicherheitskräfte die Kontrolle mit schiitischen Hashd-al Shabi und kurdischen Milizen.
Für die Zentralregierung in Bagdad hat die jesidische Minderheit keine Priorität. Der Wiederaufbau im Sindschar hat kaum begonnen. Minen und nicht explodierte Munition bedrohen die Zivilbevölkerung.
Das Verhältnis der Jesiden zu ihren früheren arabischen Nachbarn in der Region ist angespannt. Die Jesiden werfen ihnen vor, den IS unterstützt zu haben. Auch das Vertrauen in die Peschmerga der kurdischen Regionalregierung im Nordirak ist zerstört. Die Jesiden beschuldigen die Kurden, sie beim Angriff des IS im Stich gelassen zu haben.
Allein aus dem Irak sind seit 2015 mehr als 75.000 Jesiden nach Deutschland geflüchtet. Aus Syrien suchten mehr als 10.000 Jesiden Zuflucht in Deutschland. Doch die Zahl der positiven Asyl-Bescheide ist rückläufig. Im Jahr 2015 lag die Anerkennungsquote für irakische Jesiden bei über 90 Prozent, im vergangenen Jahr lag sie bei knapp unter 55 Prozent.
Das Oberverwaltungsgericht des norddeutschen Bundeslandes Niedersachsen hat in einem Grundsatzurteil gerade festgestellt, dass im Norden des Irak heute keine Gefahr einer massenhafte Verfolgung der Jesiden mehr bestehe.
Was wurde aus den versklavten Frauen und Kindern?
Nach Angaben des Büros der kurdischen Regionalregierung in der Stadt Dohuk wurden insgesamt 6417 jesidische Frauen und Kinder entführt. Nur etwas mehr als die Hälfte sei bisher zurückgekehrt.
Zu ihnen gehört Friedensnobelpreisträgerin Nadia Murad, die heute in Deutschland lebt. Die befreiten Frauen und Kinder sind hoch traumatisiert. Nur wenige tausend hatten das Glück, wie Nadia Murad durch ein humanitäres Kontingent in ein sicheres Land wie die Bundesrepublik zu kommen.
Im Norden des Irak erhalten nur wenige Frauen und Kinder psychologische und medizinische Hilfe. Unter den befreiten Kindern sind Jungen, die in Gefangenschaft zu Kämpfern und Selbstmordattentätern ausgebildet wurden. Vergewaltigungen waren an der Tagesordnung. Viele Jesidinnen wurden mit ihren Kindern mehrfach verkauft, manchmal dutzendfach. Auch deutsche IS-Angehörige haben Jesiden als Sklaven gehalten.
Bis heute kaufen jesidische Familien verschleppte Angehörige für große Geldsummen mit Hilfe von Schmugglern frei. Kinder, die in der Zeit der Versklavung geboren wurden, gelten nicht als Jesiden. Fast alle befreiten Frauen sehen sich gezwungen, diese Kinder zurückzulassen, wenn sie zu ihren Familien zurückkehren.
Was passiert juristisch?
Die Vereinten Nationen kamen schnell zu dem Schluss, dass die Verbrechen des IS auf die Vernichtung des Jesidentums zielten und den Tatbestand des Genozids erfüllen. Doch bisher wurde noch kein IS-Kämpfer wegen Völkermordes angeklagt.
Die strafrechtliche Verfolgung bleibt nationalen Gerichten überlassen. Im Weltsicherheitsrat fehlt der politische Wille, die Verbrechen des IS vor einem internationalen Gericht zu verhandeln. Dennoch sammeln UN-Organisationen im Nordirak Beweise und helfen bei der Exhumierung von Massengräbern. Jesidische Hilfsorganisationen wie Yazda dokumentieren Aussagen von Überlebenden und Zeugen.
In Deutschland ermittelt die Bundesanwaltschaft wegen Kriegsverbrechen und Völkermord gegen IS-Mitglieder.