In den 70 Jahren ihrer Existenz wähnte sich die NATO immer wieder mal in einer politischen Sinnkrise. Die Allianz hat sich aus den Zerwürfnissen über ihre Rolle und ihre Aufgaben, über Solidarität und Finanzierung immer wieder herausgearbeitet oder - wie nach dem Ende des Kalten Krieges - ganz neu erfunden. Am Ende stand immer die Erkenntnis, dass das Verteidigungsbündnis im Interesse aller Mitglieder weiter bestehen sollte.
Insofern ist die Allianz ein "Erfolgsmodell" - da hat der deutsche Außenminister ganz recht. Und sie ist ein "Erfolgsmodell", das man erhalten sollte, denn ohne die transatlantische Partnerschaft sind weder die Sicherheit Europas noch Nordamerikas auf Dauer vorstellbar. Vor 50 Jahren belastete der Streit zwischen Frankreich und die USA um die Machtverteilung in der NATO das Bündnis. Vor 25 Jahren war die Frage, ob das Bündnis nach der Auflösung des Warschauer Paktes überhaupt noch nötig ist, virulent. Vor 15 Jahren spaltete der Irak-Krieg des amerikanischen Präsidenten George W. Bush die Allianz. Die Liste lässt sich fortsetzen.
Heute prägt ein tiefes Misstrauen zwischen den USA des Donald Trump und den meisten Europäern die Verhältnisse in der NATO. Trump war es, der die Allianz für überflüssig, weil zu teuer, hielt. Inzwischen scheint er zu begreifen, dass das Beistandsversprechen für die USA nützlich ist, weil es die Europäer an Washington bindet. Die Kritik des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, die NATO sei hirntot, ist Ausdruck einer tiefen Frustration. Macron spürt, dass die Europäer unter ihren Möglichkeiten bleiben und sich vom amerikanischen Präsidenten unnötig schurigeln lassen.
Dialog als Ausweg?
Die Diplomaten in der NATO-Zentrale sind zwar pikiert über die drastische Kritik, aber die Amerikaner haben wohl verstanden: "Manchmal ist Krawall nötig. Jetzt müssen wir reden." So hat die amerikanische NATO-Botschafterin Kay Bailey Hutchison die Reaktion auf Macron zusammengefasst. Der Dialog über bessere politische Koordination in der NATO kann beginnen.
Wieder einmal. Denn das Verhältnis zwischen den transatlantischen Partnern war immer wieder Gegenstand von Debatten und Reformen. Insofern hat Emmanuel Macron mit seinem Vorstoß eigentlich alles richtig gemacht. Einen destruktiven Provokateur wie Donald Trump muss man provozieren, um die gewünschte Reaktion auszulösen. Unklar ist allerdings, wie nachhaltig der Ansatz von Präsident Macron sein wird. Morgen oder übermorgen kann Donald Trump seine Meinung wieder abrupt ändern. Ein Beispiel: Zunächst wollte er das NATO-Mitglied Türkei wirtschaftlich zerstören nach dessen völkerrechtswidrigem Einmarsch in Nordsyrien. Nach wenigen Tagen waren Trump und der türkische Präsident Erdogan wieder allerbeste Freunde, die nun in Nordsyrien ausgerechnet mit Russland zusammenarbeiten.
Mit seiner Analyse, dass die Europäer mehr für ihre eigene Sicherheit tun müssen, weil auf die USA unter Trump nur bedingt Verlass ist, hat der französische Präsident zumindest teilweise Recht. Das gestehen ihm auch NATO-Diplomaten zu. Doch was folgt daraus? Ein europäisches Militärbündnis? Aufrüstung der europäischen Nationen? Das wäre ein langer Weg. Die Europäer werden noch lange auf die überlegene Militärmacht USA bauen müssen. Der nukleare Schutzschirm, den die USA bieten, wird wohl nie zu ersetzen sein.
Also hilft nur, sich wieder zusammenzuraufen und zu hoffen, dass Donald Trump nicht selbst den Stecker der NATO zieht. Das ist durchaus nicht ausgeschlossen. Bei seiner nächsten Attacke auf die NATO-Strukturen und im Kern auf die USA sollte der französische Präsident versuchen, rechtzeitig Verbündete zu finden. Zumindest die - zugegeben - zögerliche bis lethargische Bundesregierung sollte eingebunden sein. Das würde dem Anliegen mehr Gewicht verleihen und Irritationen bei den europäischen NATO-Mitgliedern vermeiden helfen.