Druck ist nötig
22. Juni 201099,6 Prozent, oder 545 von 547 zu vergebenden Parlamentssitzen – das ist selbst auf dem Kontinent der 80+-Wahlergebnisse eine Rarität. Die Frage, die Äthiopienbeobachter am Tag danach umtreibt, ist: Warum musste die Fälschung so eklatant sein? Ministerpräsident Meles wird beim Ende der Woche beginnenden G20-Gipfel in Toronto einmal mehr Afrika repräsentieren. Er tut es nun als ein Partner, der sich ausgerechnet am Sitz der Afrikanischen Union ein skandalöses Wahlergebnis hat zimmern lassen, das selbst der Verbündete USA kritisieren muss.
Kontrolle, und die Angst vor Kontrollverlust, ist ein sehr äthiopischer Wesenszug. Doch nach dem Wahldesaster 2005, als der Sieg mit dem Tod von 200 Demonstranten erkauft wurde, ist die Regierungsclique in Addis Abeba dieses Mal eindeutig über das Ziel hinausgeschossen. Die Kader in den Provinzen wurden offenbar angewiesen, auf Nummer sicher zu gehen, dafür haben sie Staatsressourcen missbraucht, wie es die EU-Beobachtermission zurecht kritisiert hat. Die Regierung hat sich mit den 99,6 Prozent endgültig als "Entwicklungsdiktatur" mit einer Betonung auf "Diktatur" geoutet. Dazu werden sich die Partner in Washington, Brüssel und Berlin jetzt verhalten müssen. Ein "weiter so" darf es nicht geben, sonst hat vor allem der amerikanische Präsident seine Glaubwürdigkeit verspielt, lange bevor er sich überhaupt eine Afrikapolitik zurechtgelegt hat. "Entwicklung ist abhängig von guter Regierungsführung – und die Verantwortung trägt alleine Afrika", hatte Barack Obama in Ghana gesagt.
Äthiopien, Washington als Partner im Anti-Terror-Kampf am Horn eng verbunden, ist nun der Lackmustest, nicht nur für die USA, sondern auch für Deutschland, das Äthiopien großzügig alimentiert. Längst wenden sich die Menschen in Äthiopien angewidert ab von den vermeintlichen Entwicklungspartern im Westen. Denn sie haben natürlich durchschaut, dass denen das sprichwörtliche Hemd (lies: ein Bollwerk gegen islamistischen Terror am Horn, Zugang zu Ressourcen) näher ist als die Hose (Demokratisierung, Menschenrechte). Die Folge ist, dass junge Äthiopier Europa und die USA zunehmend nur noch in Form von Beyoncé oder Manchester United und nicht als ein (demokratisches) Vorbild wahrnehmen.
Ein Gutes hat das Wahlergebnis von 2010. Die Opposition, die zerstritten und ohne programmatische Ausrichtung in die Wahl ging, kommt nicht darum herum, sich neu aufzustellen. Das heißt insbesondere, neue Köpfe mit neuen Ideen aufzubauen, die den Ideologiekämpfen konkrete, moderne und vor allem jugendfähige Polit-Ideen gegenüber stellen. Die ersten Vertreter der "old guard", der Oppositionspolitiker der ersten Stunde, haben dankenswerterweise schon den Rücktritt eingereicht. Für Äthiopien, und für die politische Hygiene im Land ist dies eine gute Nachricht.
Autor: Ludger Schadomsky
Redaktion: Christine Harjes