Die Türkei auf dem falschen Weg
15. Dezember 2014Schon lange ist die Türkei nicht mehr aus dem Holz geschnitzt, aus dem Staaten mit berechtigten Ambitionen auf einen baldigen EU-Beitritt gemacht sind. Die frühere Euphorie über die Aussicht auf die Vollmitgliedschaft in der Europäischen Union ist in der Türkei schon längst verpufft. Aber auch die Hoffnungen führender europäischer Staats- und Regierungsvertreter auf eine EU-fähige, in außen-, wirtschafts- und sicherheitspolitischen Fragen zuverlässige Partnerin an der südöstlichen Peripherie des Kontinents haben sich in nichts aufgelöst. Vor zwölf Jahren, bei seinem ersten Wahlsieg, hatte der heutige Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan die Europäer noch geradezu begeistert: Weil er als derjenige galt, der endlich die politischen und wirtschaftlichen Reformen realisieren werde, zu denen seine Vorgänger aus den Reihen der bis dahin etablierten Parteien unfähig gewesen waren.
Negative Schlagzeilen im In- und Ausland
Inzwischen verursacht Erdogan im In- und Ausland nur noch negative Schlagzeilen. Und vor allem im europäischen Ausland nährt er die Furcht vor einer gefährlichen Destabilisierung der Türkei. Die Justiz, der Sicherheitsapparat, die Medien, die Wirtschaftswelt - sie alle sollen sich nur noch an Erdogans Wünschen und Zielen orientieren. Wer anders denkt oder handelt, kritisiert oder protestiert, wird vom Dienst suspendiert, festgenommen, in entlegene Regionen verbannt.
Der im amerikanischen Exil lebende Prediger Fethullah Gülen an der Spitze einer sehr großen, oppositionellen Gemeinde ist inzwischen ein erbitterter Gegner Erdogans. Obwohl er diesen in den ersten Jahren des Aufstiegs begleitet und unterstützt hatte. Jetzt will er ihn um jeden Preis stürzen. Dabei bedient sich Gülen wie einst Erdogan des Wortschatzes der Demokratie, der Moderne, der Menschenrechte und des Minderheitenschutzes. Doch die Kenner der Türkei wissen: Ein Erfolg Gülens gegen Erdogan wäre nicht mehr als die Vertreibung des Teufels mit Beelzebub. Seine auf den ersten Blick sehr modernen Ziele zu unterstützen, wäre nichts anderes als eine Wiederholung des Fehlers, den die Öffentlichkeit sowohl in der Türkei als auch im Westen begangen haben, als sie Erdogan glaubten und vertrauten.
Die Türkei muss ein Rechtsstaat bleiben
Dennoch darf es nicht dazu kommen, dass in einem NATO-Staat, der zudem zu den ersten Mitgliedern des Europarates gehört und Gründungsmitglied der OECD ist, politische Gegner willkürlich, unter fadenscheinigen, nicht nachvollziehbaren Gründen in Polizeigewahrsam genommen werden. Die Türkei verliert immer mehr an Ansehen als Rechtsstaat, wenn Andersdenkende verhaftet werden und ihre Unschuld beweisen müssen, während die Anklagebehörden die Belege strafbarer Handlungen schuldig bleiben.
Obwohl der Optimismus, den Erdogan in Europa und in den USA einst geweckt hatte, längst in Pessimismus umgeschlagen ist, liegt genau hier die letzte Chance zu einer Wende: Die Abkehr vom Abdriften in einen faktischen Ein-Parteien-Staat mit einer despotischen One-Man-Show an der Staatsspitze können nur noch hartnäckige und aufrichtige Europäer schaffen. Voraussetzung ist, dass sie glaubwürdig und ehrlich mit der Türkei umgehen. Auf einer solchen Basis müssen zügig neue, wichtige Kapitel bei den EU-Beitrittsverhandlungen eröffnet werden, anstatt die Türkei immer weiter von Europa wegzuschieben.
Europa kann und muss der Türkei helfen
Die nächsten Kapitel wären Justiz und Grundrechte, Freiheit und Sicherheit - Themenfelder, die für die Zukunft der Türkei so wichtig geworden sind. Und nicht nur für die Zukunft der Türkei! Man möchte sich das Szenario nicht vorstellen, dass die Türkei als eine derzeit noch halbwegs funktionierende pluralistische Demokratie zusammenbricht und das Land in Chaos versinkt. Die politischen, wirtschaftlichen und sonstigen sicherheitsrelevanten Tsunami-Wellen für Europa wären an Heftigkeit wohl kaum zu überbieten.