Kricket erklärt eigentlich alles: Wer so ein schräges Spiel erfindet, der tickt eben anders. Aber wie? Und warum wollen die Briten nicht mehr europäisch sein? Okay, sie waren nie richtig drin in der EU, aber jetzt sind sie richtig draußen. Das war und ist töricht - für Europa und die Briten.
Alt schlägt jung
Es waren die über 50Jährigen, die für den Brexit verantwortlich sind. Sie haben gewählt, was sie geprägt hat. Ein Mix aus Resten von Großmacht-Bewusstsein und der Insulaner-Identität: Das gefühlte alte Großbritannien. Die Lust auf Andersartigkeit. Das hat etwas Museales. Denn wirtschaftlich leidet das Vereinigte Königreich seit 1945 an Schwindsucht. Die einstige industrielle Lokomotive Europas produziert kaum noch etwas.
Und auch außenpolitisch ist es mit der Macht von einst vorbei. Die Älteren wissen das, zogen aber die Konsequenz, alleine wieder stark werden zu wollen. Eine Wunschprojektion. Die Jüngeren ticken anders. Zumindest die etwas besser ausgebildeten sind in der Welt zuhause. Sie müssen jetzt auslöffeln, was ihnen Eltern und Großeltern eingebrockt haben.
Eine Bombe, gezündet mitten in der Gesellschaft
War die britische Gesellschaft jemals gespaltener als derzeit? Nicht nur der Generationsfrieden ist gefährdet, auch zwischen Stadt und Land gärt das Misstrauen. London fühlt sich Europa näher als den eigenen Landsleuten im Norden, die mehrheitlich der EU den Rücken gekehrt haben. Noch dramatischer steigert sich der Dissens in der EU-Frage zwischen den Einzelteilen des Vereinigten Königreichs: Schotten und Nordiren denken gar nicht daran, Brüssel Lebewohl zu sagen. Gab es in der jüngeren Geschichte Großbritanniens jemals mehr politischen, gesellschaftlichen Sprengstoff? Eine Zwei-Drittel-Mehrheit hätte politische Legitimität gehabt. Es gab sie nicht - warum eigentlich nicht?
Boris Johnson wäre mit dieser Regel vermeidbar gewesen. Denn der Kampagnenanführer gegen Brüssel ist ein hemmungsloser PR-Clown. Seine Masche, als elitärer Tory auf Non-Konformist zu machen, hat verfangen bei den Wählern. Keiner ist beliebter als er im Inselreich. Dabei ist jeder seiner Auftritte eine Attitüde. Der vormalige Bürgermeister Londons mit der Frisur Marke "ungemachtes Bett" - auch das eine Inszenierung - ist ein Meister der inszenierten Selbstdarstellung.
Wenn er mit dem Rad durch Londons City strampelt, ist das zu aller erst eine Verabredung mit der Yellow Press und mitnichten Zeugnis seines Umweltbewusstseins oder seiner Bescheidenheit. Die Presse hat - Entschuldigung - geile Fotos und er die Schlagzeilen. Vermutlich ist er gar kein eingefleischter Brexiter. Er hat aber seinen weiteren politischen Aufstieg verknüpft mit einer Schicksalsfrage der britischen Nation. Insofern ist er einer der vielen Verführer schlichter Zeitgenossen. Nun hat er, was er wollte, aber wollte er auch die volle Konsequenz? Von Siegesfeiern keine Spur. Es ist verräterisch: Fürchten die, die nur ein wenig Wind machen wollten, jetzt den entfachen Sturm?
Wenn der Bauch den Kopf besiegt
Das Referendum ist auch ein Beispiel für den schwachen Stand, den die Vernunft hat, wenn Gefühle bedient werden. Nicht der Kampf gegen die Brüsseler Bürokratie - eine Kritik so alt wie die EU - sondern die Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU hat das Ergebnis bestimmt. Abgesehen davon, dass Birmingham einen größeren bürokratischen Apparat unterhält als Brüssel, ist es kaum nachvollziehbar, dass etwas mehr als 100.000 Polen, Litauer oder Ungarn, die im vergangenen Jahr eingewandert sind, die Briten so verängstigt haben, dass sie nun die Tür nach Europa zuschlagen. Dabei hat die Freizügigkeit in der EU den Briten Arbeitnehmer beschert, die Steuern, Kranken- und Rentenbeiträge zahlen. Nur: All das spielte keine Rolle beim Abstimmungsverhalten.
Gewonnen haben die EU-Gegner, weil sie die Ängstlichen maximal mobilisiert haben. Das heißt aber vor allem: Die Jungen haben geschlafen. Und die Schotten dachten wohl, so schlimm wird es nicht werden.
Aber wehe, wenn das Virus übergreift: Die große Lust gering zu schätzen, was Europa eigentlich ausmacht, ist ein Phänomen auch in anderen EU-Ländern. Ausgerechnet die Jung-Mitglieder aus Ost- und Südosteuropa, die noch vor nicht allzu langer Zeit auf Knien nach Brüssel gekrochen wären, um unter das schützende Dach der Union zu schlüpfen, beklagen nun - ganz zeitgeistig - den Verlust nationaler Rechte. An die EU-Förder- und Subventionstöpfe wollen sie aber alle ran. Es ist schon so: Das ebenso berauschende wie vernebelnde Gefühl "wieder Herr im Haus zu sein", was Teile der britischen Gesellschaft gerade so beseelt, ist ein gefährlicher Selbstbetrug.
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