Kommentar: Keine Anbiederung
22. November 2013Was haben die Ukraine, die Türkei und Island gemeinsam? Auf den ersten Blick so gut wie gar nichts. Die drei Staaten sind politisch, wirtschaftlich und kulturell extrem unterschiedlich. Aber alle drei haben sich vor Jahren sehr um die EU bemüht, heute zeigen sie Brüssel eher die kalte Schulter. Und auch auf dem westlichen Balkan scheint die Begeisterung über die europäische Idee abgekühlt zu sein. Serbien etwa ist heute nicht bereit, sich mit dem Verlust seiner alten Provinz Kosovo abzufinden. Damit blockiert es ebenfalls seinen Weg nach Europa. Was ist geschehen? Hat die europäische Integration, früher ein Selbstläufer, ihre Attraktivität für Außenstehende verloren?
Jeder Fall ist anders
So einfach ist es nicht, schon deswegen, weil die Gründe für die Ernüchterung in jedem Fall so unterschiedlich sind. Bei der Ukraine ist es schlicht und einfach der Druck aus Moskau. Präsident Putin hat ganz klar und konkret gesagt, was droht, wenn sich die Ukraine der EU zuwendet, und für den anderen Fall mit handfesten Vorteilen gelockt.
Äußerer Druck spielt bei der Türkei dagegen keine Rolle. Die Türkei hat den - zutreffenden - Eindruck, dass die Mehrheit der Europäer sie als Vollmitglied ablehnt; was die EU allerdings nicht davon abhält, die Beitrittsverhandlungen mit schlechtem Gewissen weiterzuführen.
Ganz anders ist es wiederum mit Island. Island hat sich nach der schweren Finanzkrise wieder berappelt. Es braucht die EU dafür nicht mehr und ist nicht bereit, seine Fischgründe mit anderen zu teilen. Serbien schließlich ist gefangen in der Vergangenheit.
Regierung oder Bevölkerung?
Es gibt noch ein weiteres Unterscheidungsmerkmal. Und es ist vielleicht das wichtigste. Es geht um die Frage, ob es die Regierungen oder die Bürger sind, die ihre Begeisterung verloren haben. Regierungen wechseln, und viele Politiker verfolgen ganz persönliche Interessen. Die Interessen und Wünsche der jeweiligen Gesellschaft sind dagegen viel stabiler.
Auch kommt es darauf an, inwiefern die Bürger ihre Meinung in ihrem Staat überhaupt frei äußern können und ob Regierungen darauf Rücksicht nehmen. Insofern muss man bei der Ukraine unterscheiden zwischen einer mehrheitlich EU-freundlichen Bevölkerung und einer Regierung, die entweder Russland zuneigt oder sich von Moskau zumindest den Weg vorschreiben lässt.
In Island dagegen ist die Stimmung bei Bevölkerung und Regierung klar gegen Brüssel gerichtet. Und daran dürfte sich auch so schnell nichts ändern. Island gehört auch zu den wenigen Ländern, die die politischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen der EU schon heute weitgehend erfüllen, aber keine Mitglieder werden wollen. Meistens ist es anders herum.
Manche haben Optionen, andere nicht
Doch zurück zur Frage der Attraktivität der EU. Auch hier ist keine pauschale Antwort möglich. Den Isländern kann Europa weder deutlich mehr Wohlstand noch Demokratie bieten - beides haben sie bereits. Deswegen können die Isländer auch nicht den zusätzlichen Gewinn einer Mitgliedschaft erkennen. Das ist ganz anders bei den Ländern des westlichen Balkans. Die Bevölkerungen sehnen sich nach stabilen, rechtsstaatlichen Systemen und nach Wohlstand. Ihre Länder sind aber zu schwach und zu isoliert, um sich wirtschaftlich anders als Richtung EU zu orientieren. Für sie besteht die einzige Entwicklungschance innerhalb der EU.
Sowohl die Türkei als auch die Ukraine würden zwar von demokratischen Reformen profitieren. Doch sie haben durch Größe und geografische Lage immerhin Alternativen bei ihrer ökonomischen Ausrichtung: zum Nahen und Mittleren Osten beziehungsweise nach Russland. Was ihnen objektiv mehr Vorteile bringt, steht auf einem anderen Blatt.
Zu bedenken ist auch der Eindruck, dass die EU zunächst einmal mit Forderungen kommt: Entwickelt eure Demokratie, reformiert eure Wirtschaft, bringt Opfer, dann sehen wir weiter. Die Vorteile scheinen abstrakt und in weiter Zukunft zu liegen. Das ist auch ein Kommunikationsproblem.
Keine faulen Zugeständnisse
Die Zeit, da man die Europa-Idee niemandem begründen musste, ist in jedem Fall vorbei. Das gilt inzwischen nach innen wie nach außen. Aber es ist eigentlich gut so. Es schützt vor überzogenen Erwartungen. Die Europäische Union und die Länder, die ihr Verhältnis zu ihr klären wollen, sollten nüchtern und gelassen an die Sache herangehen. Die EU hat es nicht nötig, sich Staaten anzubiedern, die nicht wollen. Im Fall Ukraine war die Schwelle zur Selbstverleugnung bereits überschritten.
Und die EU muss an ihren Werten festhalten. Das heißt, sie darf nicht Zugeständnisse bei Demokratie und Rechtsstaat machen, um einen geostrategisch wichtigen Staat in der eigenen Einflusssphäre zu halten. Sie kann dies in dem Bewusstsein, dass sie viel zu bieten hat.
Das wissen auch die Regierungen dieser Staaten. Deshalb lehnen sie ja meist die Brüsseler Kooperationsangebote nicht rundheraus ab, sondern versuchen nur, die Vorteile möglichst billig zu bekommen. Aber es muss klar sein: Die Mitgliedschaft gibt's nicht zu Schleuderpreisen.