Frieden machen mit den Taliban?
Ein junges Paar wird von den Taliban ausgepeitscht, weil es durchbrennen wollte. Ein anderer junger Mann wird zu Tode gesteinigt - er soll Ehebruch begangen haben. 35 Menschen sterben bei drei Anschlägen und Angriffen in den Provinzen sowie der Hauptstadt Kabul. Andernorts werden dutzende Menschen aus einem Bus gekidnappt - das die Bilanz allein der zurückliegenden Woche in Afghanistan. Eine Bilanz, die sich so oder ähnlich für jede beliebige Woche der jüngeren Vergangenheit des Landes zusammenstellen lässt. Und deswegen haben allein im noch jungen Jahr 2018 schon über 18.000 Menschen ihr Zuhause verlassen - jeden Tag fliehen rund 380 Zivilisten aus ihrer Heimat, sind auf der Flucht vor einem Konflikt, der nun bereits ins 17. Jahr geht.
Kehrtwende von Präsident Ghani
Niemand möchte angesichts dieses nur kleinen Ausschnitts aus der Horrorbilanz der vergangenen Jahre Ashraf Ghani, dem amtierenden Präsidenten Afghanistans widersprechen, der die Taliban bisher in aller Deutlichkeit als Terroristen gebrandmarkt hat. Gesprächsangebote machte er bisher nur denjenigen, die zuvor die Waffen niederlegen würden. Nun aber die Kehrtwende auf der Friedenskonferenz in Kabul: "Ohne Vorbedingungen" will über einen Frieden verhandeln, verspricht eine Anerkennung der Taliban als "Partei", stellt die Freilassung von Gefangenen in Aussicht, sogar die "Überprüfung der afghanischen Verfassung" möchte er nicht mehr ausschließen.
Überraschend scheint diese Volte nur auf den ersten Blick. Sowohl Regierung als auch die Taliban stehen unter immensen Druck. Die Kabuler Truppen verlieren trotz der robusten militärischen Unterstützung von außen, vor allem durch die USA, stetig Gebiete an die Taliban. Die selbsternannten Gotteskrieger auf der anderen Seite müssen um ihre Hilfe aus Pakistan fürchten, weil dort die USA ebenfalls Druck machen: mit dem Ziel, dass Pakistan offen auf Distanz geht zu seinen mutmaßlichen Schützlingen und den Hilfen für diese - von welcher Seite auch immer - aktiv entgegenwirkt. Es sieht so aus, dass keine der Parteien den Krieg siegreich beenden kann. Und genau darin liegt eine Chance zum Frieden.
Dabei haben die Taliban genau erkannt, dass der Schlüssel hierfür in Washington liegt. Und deswegen wollen sie derzeit nicht mit Kabul, sondern nur mit den USA verhandeln. Da diese aber auf jeden Fall die Kabuler Regierung ins Boot holen werden, ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis es zu direkten Verhandlungen kommen wird. Der deutsche Afghanistan-Sonderbeauftragte und Ex-Botschafter in Kabul, Markus Potzel, hat bereits vorgeschlagen, nach 2001 und 2011 eine dritte Afghanistan-Konferenz in Bonn abzuhalten.
Wer will und kann diesen Preis zahlen?
Ein Frieden könnte also in greifbare Nähe rücken. Doch ist die internationale Gemeinschaft bereit, den Preis hierfür zu zahlen? Wenn die Taliban in einer Nachkriegsordnung eine prägende Rolle spielen sollen, dann müsste der Westen die meisten der Ziele, mit denen er am Hindukusch angetreten ist, ganz schnell über Bord werfen. Die eingangs beschriebene Bilanz der vergangenen Woche muss jedem klar machen, was sich die Taliban unter einer gerechten Gesellschaft vorstellen.
Dass die Taliban von heute sich von ihren Vorgängern aus der Zeit vor dem 11. September 2001 unterscheiden, ist eine Illusion. Und genau das stellt die freiheitliche Welt vor eine unlösbare Aufgabe: Wie sollen die Regierungen in Europa, die Vereinten Nationen sowie die internationalen Hilfsorganisationen vor ihren Wählern, Geldgebern und Spendern rechtfertigen, dass künftig Entwicklungshilfe in ein Land mit den Taliban als offiziell legitimiertem (Regierungs-)Partner fließen soll? Ganz zu schweigen von einer Fortsetzung des militärischen Engagements, das aber allein wegen der Bedrohung durch die Terrorbanden des IS notwendig bleiben wird? Ein Friedensschluss mit den Taliban wirft somit mehr Fragen auf als er Lösungen bereithält.
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