Erpressung kann kein Mittel der Politik unter Partnern sein. Und als solche sehen sich die EU und die Türkei in der Flüchtlingspolitik immer noch, trotz der schweren Erschütterungen in der türkischen Innenpolitik. Es ist also konsequent, wenn die EU-Kommission die Versuche der türkischen Regierung zurückweist, im Tausch für die Rücknahme von Flüchtlingen und Migranten Visafreiheit für ihre Bürger zu erzwingen. In der Vereinbarung vom März hat die EU die Visafreiheit erneut als Ziel anerkannt, wenn die Türkei die entsprechenden Bedingungen erfüllt. Ein konkretes Datum ist auf dem März-Gipfel nicht genannt worden.
Türkei setzt sich selbst unter Druck
Die Idee der türkischen Regierung, jetzt ein Ultimatum zu stellen und den Oktober als Zeitpunkt für den Beginn der Visa-Freiheit zu nennen, ist unsinnig. Damit setzt sich die türkische Regierung höchstens selbst unter Druck. Sie müsste bis Oktober die letzten sieben der 72 Bedingungen erfüllen, ansonsten kann es keine Einreisen für türkische Staatsbürger ohne Visum in die EU geben. Da die türkische Regierung aber selbst erklärt hat, dass sie mindestens eine Bedingung, nämlich die Entschärfung der Anti-Terrorgesetze nicht erfüllen wird, hat sie den Oktobertermin für sich selbst unerreichbar gemacht.
Die Drohungen aus Ankara sind also eher absurdes Theater, das auf innenpolitische Wirkung zielt, aber das Problem nicht löst. Übrigens ist die Drohung, den Flüchtlingspakt platzen zu lassen, nicht ganz neu. Bereits im Mai hatten türkische Vertreter dies ins Spiel gebracht, als sie die Visa-Liberalisierung zum 1. Juli durchdrücken wollten. Doch der Termin verstrich ohne Folgen. Der türkischen Regierung müsste klar sein, dass die Aufhebung der Visumpflicht für die EU nicht nur ein technischer Vorgang ist, sondern auch immer eine politische Entscheidung, die in einem politischen Umfeld stattfindet. Mit einem Land im Ausnahmezustand, dessen Präsident einen Putschversuch abgewehrt hat und jetzt nach EU-Maßstäben unverhältnismäßig hart durchgreift, wird man wohl kaum einen solchen Schritt vereinbaren können.
Im Moment ist die Visa-Freiheit vor allem eine politische Trophäe, die Präsident Erdogan der EU abtrotzen will. Lebenswichtig ist der freiere Reiseverkehr für die Türken nicht. Zugegeben: Es ist mühsam und teuer ein Visum zu beantragen, aber 90 Prozent aller Anträge werden problemlos genehmigt. Wer reisen will oder muss, kann reisen.
Abschiebungen in die Türkei bisher die Ausnahme
Mit dem Flüchtlingspakt hat sich die Europäische Union, angeführt von Bundeskanzlerin Angela Merkel, natürlich in eine gewisse Abhängigkeit von der Türkei begeben. Die geschlossene Grenze zwischen Griechenland und Mazedonien und die Aussicht, von den griechischen Inseln wieder in die Türkei zurückgeschickt zu werden, hat die Flüchtlinge und Migranten derart abgeschreckt, dass sie die Überfahrt über die Ägäis nicht mehr wagen.
De facto sind nur einige hundert Menschen tatsächlich in den Türkei zurückgeschoben worden. Darunter sind kaum Syrer, weil die Abwicklung der Asylverfahren in Griechenland wesentlich länger dauert, als in dem Flüchtlingspakt vom März vorgesehen. Die Leistung der Türkei besteht also nicht in der massenhaften Rücknahme von Migranten und abgelehnten Asylbewerbern, sondern vor allem in der Versorgung der Flüchtlinge und Migranten in der Türkei. Dafür erhalten die Hilfsorganisationen von der EU inzwischen die ersten Gelder, auch wenn Präsident Erdogan dies bestreitet.
Die Türkei könnte den Flüchtlingspakt, der nur eine politische Erklärung und kein völkerrechtlicher Vertrag ist, von heute auf morgen kündigen. Die EU übrigens auch. Doch was würde passieren? Würde die Zahl der Flüchtlinge, die über die Ägäis kommen, wieder sprunghaft ansteigen? Das kann niemand exakt voraussagen. Einige Experten in der EU setzen darauf, dass die Abschreckungswirkung bestehen bleibt, so lange die Balkanroute zu ist, sprich die Weiterreise von den griechischen Inseln nach Nordeuropa unmöglich ist.
Kaum Solidarität mit Griechenland
Gefährlich ist die Situation vor allem für Griechenland. Dort könnten sich die Menschen in noch größerer Anzahl stauen als jetzt schon. Und bislang machen die übrigen EU-Staaten wenig Anstalten Griechenland zu entlasten. Dahinter steckt vielleicht auch zynisches Kalkül. Denn je schlimmer die Zustände in Griechenland, desto größer die Abschreckung von neuen Zuwanderern.
Sollten aus der Türkei tatsächlich wieder mehr Flüchtlinge nach Griechenland kommen, müsste sich die EU zumindest pro forma noch einmal mit der umstrittenen Umverteilung von Flüchtlingen befassen. Daran konnte sie sich aufgrund des Abkommens mit der Türkei seit April vorbeimogeln.
Drastisch verschärfen würde sich die Situation, sollte der türkische Präsident wahr machen, was er bereits im vergangenen Jahr einmal angedroht hat: Er könne die Flüchtlinge jederzeit in Busse setzen und über die Grenze nach Griechenland oder Bulgarien schicken. Klingt weit hergeholt? Wenn man sich die derzeitige politische Lage in der Türkei vor Augen führt, ist eigentlich nichts mehr ausgeschlossen.
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