Kolumne: Die neue "Prenzlschwäbin"
28. Mai 2017Glauben Sie mir: Schwabenhass und Maultaschen-Diktatur waren gestern. Der Krieg zwischen den "Gentrifizierern" aus dem deutschen Südwesten und der armen Urbevölkerung: Es war einmal. Ein Märchen aus unschönen Zeiten. Heute geht es friedlich zu auf dem Prenzlauer Berg in Berlin. Auch für Migranten der zweiten oder dritten Einwanderungswelle aus ganz Deutschland, zu denen auch ich mich zähle. Klar, hier und da leben ein paar mehr Schwaben und Menschen aus den beschaulichen Landesteilen unseres deutschen Vaterlandes.
"Schwabylonien" war gestern
Aber deswegen gleich den Prenzlauer Berg in "Schwabylonien" umzutaufen und so zu tun, als befände sich die überlebende Restbevölkerung im Schwitzkasten schwäbischen Brauchtums?
Sicherlich, manche hier leben immer noch im Angstmodus früherer Zeiten. Die schwäbische Maultausche, eine kulinarische Spezialität, sollte in keinem guten Haushalt fehlen, rät mir diese Koalition der ewigen Angsthasen. Die lieben Nachbarn aus dem deutschen Südwesten neigen ansonsten zu Übergriffshandlungen, fürchten sie. Das ist wohl auch der Grund, warum die Speisekarten der Restaurants am Prenzlauer Berg immer noch den Bogen zum Leib- und Magengericht der Schwaben schlagen.
Also wundern Sie sich nicht, wenn beim Löffeln im russischen Borschtsch aus blutrotem Sud plötzlich eine handtellergroße Maultasche auftaucht. Auch die vielen hippen Burger-Restaurants wollen nicht auf die adretten Schwaben-Burger mit Maultaschenhütchen verzichten. Und die Italiener sind sowieso schon als erste auf "Schwabioli" umgestiegen.
Brotkrieg um die "Schrippe"
Aber wie gesagt: Früher gab es wirklich Zeiten, da taten sich tiefe Gräben auf. Bist du für die Schwaben oder gegen die Schwaben? Grausam hörten sich die Nachrichten vom Prenzlauer Berg für mich an, als ich noch in den USA lebte. Da forderte der frühere Vizepräsident des Deutschen Bundestages und Prenzlauer Urgestein, Wolfgang Thierse, die damalige schwäbische Mehrheitsbevölkerung heraus. Er wolle sich von ihnen seine Berliner "Schrippe", also sein Brötchen, nicht wegnehmen lassen, um sie durch das "Weckle" zu ersetzen.
Die schwäbischen Einwanderer sollten sich gefälligst anpassen. Und auch von der landestypischen Kehrwoche wollte Langbartträger Thierse nichts wissen. Fremden-, pardon, Schwabenfeindlichkeit wurde ihm postwendend unterstellt. Die Wogen der Erregung erreichten mich sogar in den USA. Ich fühlte mich in das Washington der Bürgerrechts-Unruhen zurückversetzt. Doch es gibt einen großen Unterschied: Auch wenn man sich dort mit großer Leidenschaft an die Gurgel ging: Alle waren sich am Ende immer noch einig, dass ein Burger ein Burger ist.
Bleib dem Prenzlauer Berg fern!
Als ich dann aus Washington nach Berlin zog, spürte ich bei meinen Berliner Freunden die Nachwirkungen aus diesen Jahren. Ich hatte noch nicht den Fuß auf Berliner Boden gesetzt, da rieten sie unisono, bloß nicht nach Prenzlauer Berg zu ziehen. Früher sei es ein Eldorado für Nachtschwärmer, Clubgänger und Nerds gewesen, heute nur noch bevölkert von militanten Müttern mit schreienden Kindern und bunten Kinderwagen. Eben der Brutkasten der Nation - ewig überhitzt und im Stressmodus.
Doch dann passierte es: Eine Freundin aus London stellte mir ihr Apartment als vorübergehende Bleibe zur Verfügung, im malerischen Kollwitzplatz mitten im Prenzlauer Berg. Das war die Gelegenheit zum Realitäts-Check.
An einem sonnigen Apriltag machte ich mich auf den Weg zu ihrer Wohnung. Mir stockte der Atem. Alles war, wie man mir vorhergesagt hatte: Latte Macchiato schlürfende Mütter soweit das Auge reicht. Schreiende, Bio-Eis schleckende Kinder und Kinderwagen in allen Ausführungen: tiefgelegt, Hochsitzer, Sportmodelle und Beiwagen fürs Fahrrad.
Die Welt ist größer als Stuttgart
Doch dann spitzte ich die Ohren. Ich erlebte mein ganz persönliches Babylonisches Wunder: Nein, ich verstand nicht schwäbischen Bahnhof, sondern hörte Englisch, Spanisch, Französisch. Nicht schwäbisches Dampfnudel-Gebabbel, sondern der Sound der großen, weiten Welt. Oh, wie wohl das tat in meinen Ohren!
Plötzlich verstand ich: Der Prenzlauer Berg, das Multikulti-Paradies. Und so ist es noch heute. Also glaubt mir endlich. Stuttgart war gestern! Die "Prenzlschwäbinnen" kommen jetzt aus New York, London, Paris oder Madrid.
Welcome, Bonjour und Bienvenidas!