Kolumne: Aufbruch in Berlins Musikleben
1. Oktober 2017In Berlin hat das große Stühlerücken begonnen. Nein, es geht nicht um die Koalitionsverhandlungen nach der Bundestagswahl. Die Musik spielt woanders: Noch bevor der neue Bundestag zusammentritt, hat die neue Spielzeit begonnen. Und anders als die vom Wahlkampf ermattete Politik zeigt sich das Berliner Kulturleben endlich wieder mal dynamisch - und ungewohnt veränderungswillig.
Ja, es stimmt: Berlin versucht immer, die musikalischen Trends zu setzen. Sechs Sinfonieorchester, drei Opernhäuser, eine quirlige freie Szene: ein unerschöpfliches Reservoire an fabelhaften Sängern und Musikern. Und dann noch das Akustikwunder der Berliner Philharmonie, das mit dem Pierre-Boulez-Saal der Barenboim-Said-Akademie jetzt noch eine wohlklingende kleine Schwester bekommen hat. Wer bietet mehr? New York, London oder Paris? Fehlanzeige.
Ticciati, Jurowski, Petrenko
Zwei der sechs Sinfonieorchester gehen jetzt mit neuen Chefdirigenten an den Start: Gäbe es einen Wettbewerb um die bestaussehende Neuerwerbung, das Deutsche Sinfonie Orchester (DSO) wäre die neue Nr. 1 in Berlin. Robin Ticciati heißt der dirigierende Wuschelkopf - auf den Werbefotos wohl nicht zufällig wie der jüngere Bruder seines britischen Landsmanns Simon Rattle inszeniert, der übrigens seine letzte Spielzeit bei den Berliner Philharmonikern hat, bevor ihm Kririll Petrenko nachfolgt.
Noch lächelt der 34-jährige Ticciati freundlich von den Plakatwänden. Doch sein Antrittskonzert in der Berliner Philharmonie hat gezeigt: Der Mann hat Biss: Richard Strauss' opulenten "Zarathustra" setzt er neben Zeitgenössisches. Und wenige Tage davor stürzte er sich in den "Sinfonischen Mob": Mit 1000 Laienmusikern probte und musizierte er an einem ungewöhnlichen Ort: einer Berliner Shoppingmall, die am Ende mehr einem Hexenkessel als einer mondänen Einkaufspassage glich.
Charmebolzen gegen Eisenherz
Gegen den jungenhaften Charmebolzen tritt Prinz Eisenherz an: Der 45-jährige Vladimir Jurowski, der seine langen Haare wie einst der keltische Prinz an der Tafelrunde des legendären König Artus trägt. "Auftakt Jurowski" heißt es beim Rundfunk Sinfonieorchester Berlin (RSB), dessen Chefdirigent er jetzt ist. Der Sohn einer russischen Musikerdynastie mit Lebensmittelpunkt in Berlin ist international sehr gefragt: London, Salzburg, Glyndebourne, um nur einige Highlights zu nennen. Ich habe mich gefreut, dass es dem RSB gelang, diesen dicken Fisch an Land zu ziehen - oder besser in die Berliner Musikarena zu locken. Arnold Schönberg, Isang Yun, Luigi Nono - querständiger könnte das Programm eines Antrittskonzertes kaum gestrickt sein. Jurowski ist auf jeden Fall eine Bereicherung für das Berliner Musikleben. Das ist der Stoff für spannende Fernduelle mit Ticciati und Petrenko.
Barenboim und Merkel
Wie Gott-Vater thront der in Würde ergraute Daniel Barenboim über den dirigierenden Jungspunden: Seit 1992 ist er künstlerischer Leiter der Staatsoper Unter den Linden. So eine lange Amtszeit wird selbst Kanzlerin Merkel nicht mehr toppen können. Und dann noch das: So ganz ohne Koalitionsverhandlungen wurde Barenboim von seinem Orchester zum "Dirigenten auf Lebenszeit" ernannt - und darüber hinaus, wie er zuweilen scherzt.
Immerhin: Auch Barenboim bringt Bewegung ins Berliner Musikleben. Seine Rückkehr in die runderneuerte Staatsoper eröffnet neue Möglichkeiten: Denn die Staatsoper wurde nicht nur einfach renoviert. Unter dem alten, blankgeputzten Gehäuse ist ein völlig neues Innenleben installiert aus modernster Bühnentechnik und unterirdischen Probenräumen. Doch Technik ersetzt nicht Visionen.
Ich wünsche mir sehr, dass der junge Matthias Schulz als Nachfolger von Alt-Intendant Jürgen Flimm Erfolg hat. Dass er das bisher recht staatstragende Staatsopern-Programm von Beethoven bis Domingo mutig aufmischt: Neue Regisseure, neue Dirigenten, neues Repertoire. Übervater Barenboim müsste dafür loslassen. Was ihm sonst blühen könnte, dafür braucht Barenboim nur wenige Meter Richtung Kanzleramt schauen. Denn wer zu spät loslässt, den bestraft das Leben.