Deutsche Trainer: Erfolgsgeheimnis Charisma
31. Dezember 2020Deutsche Fußballtrainer haben das Jahr 2020 geprägt. Jürgen Klopp beendete die 30 Jahre andauernde Durststrecke des FC Liverpool ohne englischen Meistertitel. Thomas Tuchel holte mit seinem (nun Ex-) Team Paris Saint Germain das französische Double und erreichte das Endspiel der Champions League. Julian Nagelsmann führte RB Leipzig bis ins Halbfinale der europäischen Königsklasse. Unter Marco Rose schaffte es Borussia Mönchengladbach in der aktuellen Saison erstmals seit 1977 wieder ins Achtelfinale des Wettbewerbs. Und Hansi Flick erreichte mit dem FC Bayern München das scheinbar Unmögliche: fünf Trophäen in seiner ersten Saison als Cheftrainer des Klubs - darunter das begehrte Triple aus Meisterschaft, DFB-Pokalsieg und Champions-League-Triumph.
Auf der Suche nach großen Persönlichkeiten
Die deutschen Erfolgstrainer haben allesamt irgendwann einmal den DFB-Lehrgang zum "Fußball-Lehrer" durchlaufen, der in Europa einen ausgezeichneten Ruf hat. Alljährlich wählt der DFB aus rund 100 Bewerbern 25 Teilnehmer für die Trainerausbildung in Hennef bei Köln aus. Ende 2021 wird der Lehrgang in eine neue, hochmoderne Einrichtung in Frankfurt umziehen. Dann will der DFB nur noch 20 Bewerber pro Jahr zulassen, was die Ausbildung noch exklusiver macht.
Die Persönlichkeit der Kandidaten spielt eine wichtige Rolle bei der Auswahl der kommenden Fußball-Lehrer. "Wir verbringen viel Zeit damit, die fußballerische Struktur jedes potenziellen Trainers zu bewerten, seine analytischen Fähigkeiten, ob er in der Lage ist, Trainingseinheiten zu planen und durchzuführen", sagt Daniel Niedzkowski, der seit 2018 den DFB-Lehrgang leitet. "Aber wir schauen uns auch an, ob der Kandidat Charisma hat. Vermittelt er Vertrauen in das, was er sagt? Für einen Trainer ist es enorm wichtig, dass er seine Spieler von seinen Methoden überzeugen kann. Unser Problem besteht darin, dass Charisma sehr subjektiv empfunden wird."
Aufgeschlossen für Neues
Und Charisma alleine reicht nicht aus. Bei Julian Nagelsmann beispielsweise gesellt sich seine Offenheit gegenüber technischen Innovationen hinzu. Seine Videowand, die er schon als Trainer der TSG Hoffenheim für die Spielanalyse nutzte, wurde später von vielen anderen Vereinen kopiert. Zudem hinterfragt der Trainer von RB Leipzig auch ständig sich selbst und seine Methoden.
"Soweit ich das beurteilen kann, ist Julian Nagelsmann an allem interessiert, was ihm helfen kann, ein besserer Trainer zu werden", sagt Niedzkowski der DW. "Er macht unter anderem deshalb diese unglaublichen Fortschritte, weil er sehr offen für Selbstreflexion und den Input anderer ist." Zudem falle es Nagelsmann mit seinen erst 33 Jahren möglicherweise leichter als anderen, eine enge Verbindung zu jungen Spielern aufzubauen - eine Fähigkeit, die alle aktuell erfolgreichen deutschen Trainer auszeichne. "In der Bundesliga werden viele junge Spieler eingesetzt, die teilweise noch Teenager sind", so Niedzkowski. "Es ist sehr wichtig, dass die Trainer in Deutschland wissen, wie sie mit dieser Generation von Spielern umgehen müssen."
"Oxford des Trainings"
Jürgen Klopp gehört mit seinen 53 Jahren gefühlt fast schon zur älteren Trainer-Generation - wahrscheinlich auch, weil er aufgrund seiner zahlreichen Erfolge, seines Charismas, seiner Fußballphilosophie und seiner Methoden ein Vorbild für viele jüngere Trainer ist. Das gilt übrigens auch für Ralf Rangnick, den früheren Trainer und Sportdirektor von RB Leipzig. "Klopp und Rangnick haben gewissermaßen neu definiert, wie Fußball aussehen sollte", sagt der in London lebende deutsche Fußball-Autor Raphael Honigstein der DW. "Wenn man nicht bereit ist, auf diese Weise zu trainieren, ist man für die meisten Vereine in Deutschland uninteressant."
Honigstein hält große Stücke auf das Modell der Klubs RB Leipzig und FC Red Bull Salzburg, die vom selben Sponsor finanziert werden. Von diesem System habe nicht nur Nagelsmann profitiert, sondern auch Marco Rose, der vor seinem Wechsel nach Mönchengladbach sechs Jahre lang in Salzburg arbeitete, erst als Jugend-, dann als Cheftrainer. "Red Bull arbeitet mit unglaublich guten Leuten zusammen, die alle etwas von Fußball verstehen. Wenn man in einem solchen Umfeld erfolgreich ist, kann man fast überall erfolgreich sein. Es ist wie die ultimative Schule des deutschen Fußballs - das Oxford oder Cambridge des Trainings. Es gibt dort eine Kultur der Exzellenz", konstatiert Honigstein.
Der Flick-Faktor
Obwohl Jürgen Klopp zum Welttrainer 2020 gekürt wurde, war eigentlich ein deutscher Kollege der erfolgreichste Coach des Jahres: Hansi Flick. Der Bayern-Trainer beendet sein erstaunliches Debütjahr mit mehr gewonnenen Trophäen als Niederlagen in Spielen. Mitte 2019 stieß der frühere Assistent von Weltmeistertrainer Joachim Löw zum deutschen Rekordmeister: als Co-Trainer von Niko Kovac. Als dessen Stern zum Sinkflug ansetzte, zogen die Verantwortlichen des Vereins die Reißleine. Kovac ging, Flick übernahm - und wie! Spieler, die unter Kovac ins zweite Glied verbannt worden waren, blühten unter dem nach außen eher unspektakulär wirkenden Flick regelrecht auf. Und die Bayern gewannen ihre Spiele plötzlich auf eine souveräne Art, wie man sie seit den Tagen des spanischen Trainers Pep Guardiola in München nicht mehr gesehen hatte. Das überraschte selbst die Experten.
"Flick verhielt sich als Assistenztrainer so unauffällig, dass die Leute dachten, er hätte nicht die nötige Persönlichkeit, um so etwas durchzuziehen", erklärt Honigstein. "Wir stellen uns Trainer gerne als überlebensgroße Figuren vor, und so ein Typ war Flick nie wirklich." Und doch erreichte der Trainer mit seiner ganz eigenen Art die Mannschaft und formte den FC Bayern innerhalb weniger Monate zur spannendsten und erfolgreichsten Mannschaft Europas. Ein Beweis dafür, dass Charisma in vielen verschiedenen Formen auftreten kann.
Adaption: Stefan Nestler