Den Klimawandel fotografieren
6. November 2020Ein Team von Bergsteigern erklimmt einen grasbewachsenen Hang mit Blick auf die majestätische Marmolada. Das ist mit 3343 Metern der höchste Berg im Herzen der Dolomiten, dem UNESCO-Weltnaturerbe in den italienischen Alpen.
Die Bergsteiger schleppen schwere Rucksäcke. Darin befindet sich jedoch nicht etwa schwere Kletterausrüstung. Das Gewicht kommt von Großformatkameras, die den Kameras nachkonstruiert wurden, die Fotopioniere vor mehr als einem Jahrhundert verwendet haben.
Das Team ist auf der Suche nach der genauen Stelle, an der Fotograf Franz Dantone 1880 eine Panoramaaufnahme des Marmolada-Gletschers machte. Damals muss die uralte Eismasse so unveränderlich gewirkt haben wie jedes andere geologische Merkmal der Landschaft. Aber heute gilt die Marmolada als einer der ersten berühmten Alpengletscher, der vermutlich innerhalb der kommenden 30 Jahre verschwunden sein wird.
Weltweite Gletschertour
Leiter der Teams ist Fotograf und Entdecker Fabiano Ventura. In den vergangenen zehn Jahren hat er die wichtigsten Gebirgsgletscher der Erde besucht, von Alaska bis Patagonien, vom Kaukasus bis zum Himalaya.
Ventura treiben nicht etwa sportliche Bergsteigerambitionen. Sein Vorhaben ist so gewaltig wie erschütternd: Ventura arbeitet an einem Archiv, das Gegenüberstellungen der ältesten existierenden Gletscherfotos mit heutigen Aufnahmen von derselben Stelle ermöglichen soll. Zwischen den Fotografien liegen Jahrzehnte der Erderwärmung. Expeditionen in die Alpen in diesem und im kommenden Jahr sollen das Projekt vervollständigen.
Schöne Bilder mit starker Botschaft
Ventura hält ein Exemplar von Dantones Foto in Händen, das er ständig mit seiner Umgebung vergleicht. Dabei prüft er Winkel und Tageslicht, damit die Schatten der Landformen perfekt - oder fast perfekt - aufeinanderpassen. "Manchmal verbringen wir Stunden auf einem Gipfel und warten auf das perfekte Licht", sagt Ventura. "Manchmal müssen wir zurückkommen, wenn das Wetter nicht gut ist."
Selbst ein ungeübtes Auge erkennt sofort die dramatischen Unterschiede zwischen dem 140 Jahre alten Foto und der heutigen Sicht, nicht zuletzt an den Seilbahnen, Skipisten und Stromleitungen, die diese einst unberührte Landschaft durchziehen.
Doch es ist auch eine noch viel tiefere Spur menschlicher Einflüsse zu sehen. Wo einst felsige Aufschlüsse aus einem Meer aus grellem Weiß hervorragten, sind heute nur noch Fetzen von hellem Eis über eine ansonsten dunkle Felsfläche verstreut.
Venturas Bilder sind eine dramatisch visuelle Darstellung des realen Klimawandels - ein aussagekräftiger Beweis dafür, wie schnell sich der Planet erwärmt, ein Beweis, den jeder Betrachter schnell erfassen kann.
Kunst als Datenerhebung für die Wissenschaft
Gleichzeitig fungiert seine Arbeit als wertvolle Datenquelle zur Unterstützung der Forschungen von Klimawissenschaftlern, die versuchen, den Eisverlust zu quantifizieren. "Sie erlaubt eine bessere quantitative Analyse und ist viel präziser als die üblichen Vergleiche, die anderweitig durchgeführt werden", sagt Christoph Mayer, Gletscherforscher an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften.
Im Gegensatz zu Satellitenbildern, die zumeist erst aus den späten 1970er Jahren stammen, erlaubt Venturas Projekt Vergleiche mit Gletscherformationen, die bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurückreichen. Zudem zeigen seine hochauflösenden Bilder wesentlich mehr Details. "Immer mehr Wissenschaftler fragen nach meinen Fotos, um mit ihnen und ihren eigenen wissenschaftlichen Daten einen eindeutigen Überblick über die Auswirkungen des Klimawandels zu erhalten", sagt Ventura.
Mayer interessiert sich besonders für Venturas Bilder des Baltoro-Gletschers in Pakistan. Er hofft, dass sie ihm eine Einschätzung darüber ermöglichen, wie viel Eis verloren gegangen ist, seit Vittorio Sella den Baltoro 1909 fotografiert hat.
Datensicherung über das Gletschersterben
Venturas Prozess ist eine ganz eigene Form der wissenschaftlichen Untersuchung. Allein für die Alpen haben er und sein Team tausende von Fotos aus 70 Archiven in ganz Europa untersucht und diejenigen mit den besten Eigenschaften hinsichtlich des Lichts, der Auflösung und der Perspektive ausgewählt. Diese Bilder wurden für die Ausstellung sorgfältig restauriert.
Dazu kommt der mühsame Prozess, die genaue Position ausfindig zu machen, von der aus die historischen Gletscherfotos aufgenommen wurden. Die Geodaten und -referenzen der Aufnahmeorte werden sorgfältig notiert und archiviert, so dass künftige Generationen von Fotografen und Forschern zurückkehren können, um die laufenden Veränderungen weiter zu beobachten. Denn schon bald wird angesichts des anhaltenden Klimawandels auch Venturas Werk nur noch ein Stück Geschichte sein.
Eisfreie Alpen zum Ende des Jahrhunderts?
Das gesamte Volumen der Alpengletscher wird auf nur noch etwa ein Drittel der Vorkommen von 1850 geschätzt. Das meiste Eis ging seit den 1980er Jahren verloren, als sich das Gletscherschmelzen in den Alpen enorm beschleunigte.
Allein im heißen Sommer 2019 haben die Alpen in nur zwei Wochen 800 Millionen Tonnen Eis verloren, so Matthias Huss, Glaziologe an der ETH Zürich.
Bis zum Ende dieses Jahrhunderts wird es wohl keinen besseren Ort geben, um einen majestätischen Alpengletscher zu bewundern, als eine Galerie mit den historischen Fotos.
Laut Berechnungen von Forschern, unter anderem von der ETH Zürich, wird bis zum Jahr 2100 nur noch ein Drittel der Eismasse in den Alpen übrigbleiben. Vorausgesetzt, die Menschheit stoppt die Erderwärmung bis dahin auf 1,5 bis zwei Grad im Vergleich zur vorindustriellen Zeit. Doch danach sieht es derzeit leider nicht aus.
Adaption aus dem Englischen: Jeannette Cwienk