"Eine Art saudischer Staatsterrorismus"
10. Oktober 2018DW: Frau Karman, Sie protestieren derzeit täglich vor dem saudischen Konsulat in Istanbul und sind so das Gesicht einer globalen Solidaritätskampagne für Jamal Khashoggi geworden. Die türkischen Behörden hatten angekündigt, rasch über ihre Ermittlungen zu dessen Verschwinden zu informieren. Doch die Aufklärung lässt derzeit weiter auf sich warten. Wie sehen Sie diesen Umstand?
Tawakul Karman: Die Türkei muss alle Details aufklären. Das ist ihre Verantwortung und dazu ist sie verpflichtet. Auf ihrem Staatsgebiet hat sich ein abscheuliches Verbrechen ereignet. Mit unserem Streik fordern wir die Türkei auf, alles zur Aufklärung Notwendige zu unternehmen und die Weltöffentlichkeit über die Ereignisse zu informieren. Bislang hat die Türkei viele Details eher nebenbei durchsickern lassen. Sie muss diese aber auch offiziell bekanntgeben.
Was sind Ihre neuesten Informationen?
Die jüngsten Daten weisen darauf hin, dass Jamal Khashoggi höchstwahrscheinlich im Konsulat von einem 15-köpfigen saudischen Sicherheitsteam getötet wurde, das aus dem Ausland an- und noch am selben Tag wieder abreiste. Medienberichten zufolge sagen türkische Sicherheitsquellen, Jamal Khashoggi sei im Konsulat gefoltert und getötet worden, anschließend sei seine Leiche in einem abgedunkelten Wagen abtransportiert worden. Bislang hat das Konsulat noch keinerlei Beweis vorgelegt, dass Khashoggi das Konsulat lebend wieder verlassen hat.
Unsere zentrale Frage ist darum: Wie steht es um seine geistige, körperliche und geistige Gesundheit? Wurde er gefoltert? Wurde er getötet und sein Körper anschließend tatsächlich zerteilt, wie türkische Sicherheitsdienste sagen? All das muss die Weltöffentlichkeit erfahren.
Ist die Solidaritätskampagne der Medien und Aktivisten ausreichend, um die Beteiligten hinreichend unter Druck zu setzen?
Dies ist eine globale Kampagne. Sie ist nicht auf die Türkei beschränkt. Es handelt sich um eine Informationskampagne zum Verschwinden von Jamal Khashoggi. Dieses Verschwinden ist ein Angriff auf die gesamte Zivilgesellschaft, auf Journalisten und Aktivisten. Deshalb kann niemand zu diesem Verbrechen schweigen. Wie es aussieht, werden wir Zeuge eines von Saudi-Arabien verantworteten Falles von Staatsterrorismus. Dieser Fall fügt sich in andere staatsterroristische Praktiken ein, die Saudi-Arabien inner- wie außerhalb seines Territoriums gegen seine Bürger praktiziert.
Als Trägerin des Friedensnobelpreises sind Sie eines der prominentesten Gesichter der Khashoggi-Solidaritätskampagne. Welche Ziele hat die Kampagne?
Sie drängt vor allem auf Khashoggis Freilassung, für den Fall, dass er noch leben sollte. Wir hoffen weiterhin, dass das der Fall ist. Zudem müssen diejenigen, die für dieses Verbrechen verantwortlich sind, zur Verantwortung gezogen werden. Dazu zählt für uns an erster Stelle (der saudische Kronprinz, Anm. d. Red.) Mohammed bin Salman. Wir beschuldigen ihn, die Aktion angewiesen zu haben. Das lässt auch das Interview vermuten, dass er dem Sender Bloomberg gegeben hat. Darin lässt er ein sehr detailliertes Wissen erkennen. Wir fordern darum eine internationale Untersuchungskommission. Diese muss die Wahrheit ermitteln und die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen.
Ihre Anschuldigungen gründen auf einem Interview des saudi-arabischen Kronprinzen. Haben Sie weitere Hinweise, die ihn persönlich beschuldigen, diesen Prozess zu beaufsichtigen?
Wenn das gesamte Unternehmen laut türkischen Sicherheitskreisen im saudischen Konsulat durchgeführt wurde, das ja den saudischen Staat repräsentiert, kann es nicht ohne direkte Anleitung von Mohammed bin Salman ausgeführt worden sein.
Zudem ist bekannt, dass die systematische Verfolgung und die Politik der Repression gegen Gegner des Mohammed-bin-Salman-Regimes dazu geführt hat, dass Hunderte Aktivisten und Journalisten verhaftet, versteckt, entführt worden sind - ohne jedes Recht, sich selbst zu verteidigen oder auf Anwälte zurückzugreifen.
Stehen Sie in der Sache im Kontakt mit anderen Nobelpreisträgern?
Ja, es wird bald eine Stellungnahme von einer Gruppe von Nobelpreisträgern geben. Darin verurteilen Sie das Vorgehen gegen Jamal Khashoggi. Zudem gibt es eine Erklärung zu all den Oppositionellen, die in saudischen Gefängnissen inhaftiert. Ebenso äußern wir uns zum saudischen Krieg im Jemen wie auch gegen die von Muhammad bin Salman praktizierte Politik der Arroganz und Aggression.
Wann hatten Sie zum letzten Mal direkten Kontakt zu Khashoggi? Wie sah er das saudische Königreich?
Ich traf ihn vor etwa zwei Monaten. Wir kommunizierten auch per Mail. Er war sehr unglücklich über die Verhaftungswelle in Saudi-Arabien. Er ging allerdings nicht davon aus, dass es eine Revolution gegen Kronprinz Bin Salman geben werde. Er wollte diese auch nicht. Stattdessen sprach er sich für maßvolle Reformen aus.
In einigen saudischen und emiratischen Medien wird der Vorwurf erhoben, die Kampagne der Solidarität mit Khashoggi werde von Katar verantwortet. Sie selbst werden beschuldigt, die Kampagne im Namen einer bestimmten politischen Agenda zu führen. Was sagen Sie zu diesen Vorwürfen?
Es handelt sich um eine globale Kampagne, die von vielen Medien getragen wird - von kleineren bis zu großen wie der "Washington Post". Jamal war Journalist der Washington Post. Er wurde in das saudische Konsulat in der Türkei gelockt, dort versteckt und möglicherweise getötet. Die Verantwortlichen dachten, sie könnten Jamal Khashoggis Stimme zum Schweigen bringen. Doch stattdessen wurde seine Stimme noch stärker und noch bekannter. So machten sie ihn selbst zu einer globalen Ikone der Meinungs- und Meinungsfreiheit.
Tawakkol Karman ist eine jemenitische Journalistin und Menschenrechtsaktivistin. Sie ist Mitglied der den Muslimbrüdern verwandten Oppositionspartei al-Islah. Sie ist eine Repräsentantin der Protestbewegung im Jemen. 2011 erhielt sie den Friedensnobelpreis für ihr Engagement für Frauenrechte.
Das Interview führte Moncef Slimi.