Kernkraft-Renaissance wegen Energiepreisen?
27. Oktober 2021Seit Januar ist Energie in Deutschland um rund 140 Prozent teurer geworden. Experten führen das vor allem auf explodierende Erdgaspreise zurück, die seit Beginn des Jahres um 440 Prozent zugelegt haben.
Für die privaten Haushalte in Deutschland hat sich die Strom- und Gasrechnung in der ersten Jahreshälfte nur um einen Bruchteil davon verteuert, nämlich um 4,7 Prozent, aber viele befürchten, dass die Preissteigerungen bald an sie weitergegeben werden.
Deutschland hat bereits heute die höchsten Stromkosten Europas. Etwa die Hälfte des Preises für Endkunden entfallen auf Steuern, Umlagen, Abgaben und Entgelte, von denen ein Teil zur Förderung der erneuerbaren Energien verwendet wird.
Ende diesen Jahres sollen drei der noch sechs verbliebenen deutschen Kernkraftwerke vom Netz gehen, im kommenden Jahr dann die letzten drei. Der Beschluss der Bundesregierung ganz auf Kernkraft zu verzichten, den sie nach der Atomkatastrophe im japanischen Fukushima 2011 getroffen hatte, wäre dann erfüllt. Da Deutschland gleichzeitig aus der Kohleverstromung aussteigen will und damit kurzfristig mehr von Gas abhängen wird, bevor die erneuerbaren Energien die Lücke schließen, könnte das die Energiepreise noch mehr in die Höhe treiben.
Drei Viertel der Deutschen wollen laut einer Umfrage des Preisvergleichsportals Verivox, dass die Regierung mehr gegen die Preissteigerungen tut, und 31 Prozent wären für weitere Kernkraftnutzung, wenn das die Strompreise stabilisierte. Seit 2018 ist die Unterstützung der Kernkraft damit um elf Prozentpunkte gestiegen.
Pro und contra Atomkraft
Bei den beginnenden Koalitionsverhandlungen von SPD, Grünen und FDP spielt die Atomkraft allerdings keine Rolle.
Am 13. Oktober veröffentlichten Energieexperten in der Zeitung "Die Welt" einen offenen Brief internationaler Experten mit dem Titel "Liebes Deutschland, bitte lass die Kernkraftwerke am Netz". Résumée: "Deutschland droht sein Klimaziel für 2030 zu verpassen, allen Mühen zum Trotz. Der Ausstieg aus der Atomkraft wird die Kohlenstoff-Emissionen nur noch weiter erhöhen. Das muss verhindert werden."
Einer der deutschen Unterzeichner war Simon Friedrich, Professor der Philosophie der Wissenschaft an der niederländischen Universität Groningen. "Wir wollen die Erneuerbaren fördern", sagt er der Deutschen Welle. "Wenn wir erst einmal die Kernkraftwerke durch erneuerbare Energien ersetzen müssen, wäre das ein unnötiger Rückschritt." Friedrich räumt ein, wie viele seiner Generation, die in den 80er Jahren aufwuchs, sei er früher glühender Kernkraftgegner gewesen. Erst mit seinem Physikstudium sei er kritischer geworden. Friedrich glaubt zwar nicht, dass die Atomkraft unproblematisch sei, aber dass sie übergangsweise eine wichtige Rolle spielen kann, weil sie kaum klimaschädlich ist und bei jeder Witterung große Mengen Strom erzeugen kann.
Geringe Chancen für eine neue Energiewende
Aber selbst wenn unklar ist, wie Deutschland gleichzeitig aus Kohle und Kernenergie aussteigen und trotzdem seine Klimaziele erreichen kann, erscheint es sehr unwahrscheinlich, dass die neue deutsche Regierung auch nur einer Laufzeitverlängerung der verbleibenden Kernkraftwerke zustimmen würde.
"Der politische Preis wäre immens. Das würde kaum ein gewählter Politiker tun, und auf keinen Fall eine Regierung, an der die Grünen beteiligt sind", glaubt der Energieexperte Prof. Lion Hirth von der Hertie School of Governance. "Es würde wie ein Verrat an der Sache aussehen", meint er gegenüber der Deutschen Welle. "Es gibt wenige politische Themen, bei denen sich über so lange Zeit ein so starker Konsens herausgebildet hat."
Europa ist gespalten in der Atomfrage
Doch das gilt für Deutschland. In anderen europäischen Ländern sieht die Situation völlig anders aus. Innerhalb der EU führt Frankreich eine Gruppe von Ländern an, die die Kernkraft als Weg aus der Klimakrise befürworten. Zu ihnen gehören auch zwei andere Nachbarländer Deutschlands: Polen und Tschechien. Alle drei bauen zur Zeit neue Reaktoren und drängen darauf, dass die Atomenergie in die Dekarbonisierungspläne der EU aufgenommen wird.
Frankreich hat dabei ein starkes wirtschaftliches Interesse: Dort stammen mehr als 70 Prozent der gesamten Stromerzeugung aus Atommeilern, in Deutschland inzwischen nur noch gut elf Prozent.
Im April 2020 kam die Gemeinsame Forschungsstelle der Kommission in einem Bericht zu dem Ergebnis, dass Kernkraft eine sichere, CO2-arme Energiequelle sei, vergleichbar mit Wind- und Wasserkraft. Dagegen unterzeichneten die Energieminister Deutschlands, Österreichs, Dänemarks, Luxemburgs und Spaniens einen Brief, in dem sie die Kommission zu einer anderen Bewertung der Kernkraft drängten. Die Atomkraft sei im Gegensatz zu Windkraft eine "Hochrisikotechnik" und daher nicht mit Windkraft zu vergleichen, hieß es dort.
Die EU bleibt also in der Frage der Kernenergie tief gespalten.
Trauer wegen Schließung
Ende des Jahres soll die letzte Einheit des Kernkraftwerks Gundremmingen in Bayern abgeschaltet werden. Die Zahl der Beschäftigten soll laut Informationen des Betreiberunternehmens RWE von 540 auf 440 im ersten Jahr nach der Schließung zurückgehen. Viele Beschäftigte werden noch für die Zeit der Stillegung und des Rückbaus gebraucht, die sich auf gut zehn Jahre erstrecken sollen. Aber im Laufe der Zeit werden immer weniger Beschäftigte benötigt.
Trotz eines Reaktor-Störfalls 1977, bei dem ein Block abgeschaltet wurde und wirtschaftlichen Totalschaden erlitt, sind nach wie vor viele Anwohner Kernkraftbefürworter. "Wir sind echt traurig", sagt Gerlinde Hutter, die den Gasthof "Zum Ochsen" in Gundremmingen betreibt, über die bevorstehende Schließung. Sie befürchtet, dass sie in Zukunft weniger Gäste haben wird, da viele beim Kraftwerk beschäftigt sind. "Wir haben auch Angst, dass das irgendwann mit dem Strompreis nicht mehr geht. Es ist bestimmt nach wie vor auch Kraftwerksstrom, den wir bekommen, denn die Länder um uns rum, die bauen ja alle auf."