Vom Leben lernen: Dirigent Kent Nagano wird 70
21. November 2021Fragt man den umtriebigen Dirigenten Kent Nagano, ob er sich mit 70 Jahren nicht genauer überlegt, wie er seine Energien einteilt, dann antwortet er mit den Worten des Rock- und Jazzmusikers Frank Zappa: Es sei ein Privileg, Musik zu machen. "Ich habe eigentlich ständig Ferien und tue genau das, was ich am liebsten tun möchte", sagt Nagano im Interview mit der Deutschen Welle. Natürlich müsse er stärker Prioritäten setzen als in jungen Jahren, aber er habe noch viele Träume und Ideen und vor allen Dingen noch zahlreiche Orchesterprojekte vor sich. "Nicht jeder ist in der wunderbaren Situation, dass er seine Leidenschaft zum Beruf machen kann. In diesem Sinne fühle ich mich sehr glücklich."
Umgeben von klassischer Musik
Kent Nagano, US-Amerikaner mit japanischen Wurzeln, stammt aus dem kleinen kalifornischen Fischerdorf Morro Bay. Seine Mutter war Mikrobiologin und Pianistin. Mit klassischer Musik ist er zu Hause aufgewachsen. Als Nagano später an der University of California in Santa Cruz klassische Musik und Soziologie studierte, hatte er kaum Ohren für die Rock- und Popmusik seiner Generation.
Frank Zappas Musik lag ihm fern und doch hat der Rock- und Jazzmusiker Kent Nagano ein Stück seines musikalischen Weges persönlich begleitet. Er ist eine der zehn Personen, über die Kent Nagano in seinem Buch "10 Lessons of my Life. Was wirklich zählt" mit der Autorin Inge Kloepfer gesprochen hat.
Kent Nagano und Frank Zappa
"Rock- und Popmusik waren bei uns zu Hause regelrecht verboten", sagt Nagano im DW-Interview. "Meine Mutter hielt es für die falsche Richtung und sie war ja meine erste Klavierlehrerin." Erst als der französische Dirigent und Komponist Pierre Boulez Zappas Musik dirigieren wollte, wurde Nagano auf den Musiker aufmerksam und besuchte eines seiner Rock-Konzerte.
Bei Pierre Boulez hatte Nagano eine Zeitlang studiert. "Man kann sich kaum vorstellen, dass ich mit 28 oder 29 Jahren noch nie auf einem Rockkonzert gewesen war und somit nie im Leben diese Erfahrung gemacht hatte." Nagano war begeistert und nahm drei Schallplatten mit Frank Zappa und dem Londoner Symphonie Orchester auf. Bis zu Frank Zappas Tod war Kent Nagano eng mit ihm befreundet.
Das Streben nach Perfektion
Von Frank Zappa lernte Nagano das Streben nach Perfektion. Wenn alle Töne und die technische Umgebung perfekt waren, dann fühlte sich Zappa frei. Frei, um seine Energie in den musikalischen Ausdruck zu legen. Auf diese Weise habe Zappa bei der Aufführung ein höheres Qualitätsniveau erreicht als in den Vorbereitungen, erklärt Nagano. "Das ist etwas, das dir nicht nur in der Musikwelt, sondern auch im Leben weiterhilft: Man sollte sich nicht mit dem Gewöhnlichen zufrieden geben, sondern auf außergewöhnliche Qualität bestehen."
Kent Nagano ist in seinem Leben vielen starken Persönlichkeiten begegnet. Einige haben bleibende Spuren hinterlassen. Von der isländischen Sängerin Björk lernte er, dass Perfektion nicht alles sei, sondern dass es darauf ankomme, was ein Künstler seinem Publikum zu sagen habe. Pierre Boulez weckte Naganos Interesse für Neue Musik und Leonard Bernstein stellte ihm immer wieder Fragen, die ihn zum Nachdenken bewegten.
Lernen von Leonard Bernstein
Von seinem Lehrer Leonard Bernstein habe er Lektionen gelernt, die noch viele Jahre später ihre Auswirkungen gezeigt hätten, sagt Nagano. "Auch heute realisiere ich noch Dinge, bei denen ich denke: 'Ah, darüber hat Leonard Bernstein gesprochen'."
Bernstein war nicht nur Dirigent und Komponist, sondern auch Geisteswissenschaftler und Humanist. Er betrachtete Musik aus verschiedenen Perspektiven. In einer Unterrichtsstunde ging er mit Kent Nagano ins Guggenheim Museum, statt mit ihm zu dirigieren. Sie betrachteten gemeinsam Kunstwerke und unterhielten sich darüber. "Wenn wir Musik machen, sehen und fühlen wir ein Bild in unserer Vorstellung. Wir malen Bilder in einer unendlichen Vielfalt von Farben und Artikulationen", sagt Kent Nagano. Leonard Bernstein habe damals seine Sinne dafür geschärft.
Die Zeit in Deutschland
Nach seinem Studium bei Pierre Boulez und Leonard Bernstein kam Kent Nagano im Jahr 2000 als Chefdirigent zum Deutschen Symphonie-Orchester Berlin. Danach leitete er ab 2006 als Generalmusikdirektor die Bayerische Staatsoper in München und arbeitete auch als Musikdirektor beim Orchestre symphonique de Montréal. Seit 2015 ist er Generalmusikdirektor der Hamburgischen Staatsoper und Chefdirigent des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg, darüber hinaus dirigiert die besten Orchester der Welt.
Kent Nagano wird von vielen wegen seiner Offenheit und Entdeckungsfreude geschätzt. So, wie er sich populärer Musik geöffnet hat, interessiert er sich auch für die historische Aufführungspraxis. Mit dem bekannten Originalklang-Ensemble "Concerto Köln" arbeitet er seit 2017 an Richard Wagners "Ring des Nibelungen" mit historischen Instrumenten.
Mit dem Berliner Symphonie-Orchester ist er bis heute verbunden - und das nicht nur musikalisch: "Dass ich heute Deutsch spreche, liegt vor allen Dingen am Symphonie-Orchester. Mindestens 85 Prozent meines Wortschatzes stammen von meinen Kollegen im Orchester."
Nagano hat noch viele Pläne und musikalische Langzeitprojekte für die Zukunft. Die Energie dafür holt er sich beim Windsurfen in seiner kalifornischen Heimat. Das sei ein idealer Sport, um sich fit zu halten, meint er - auch mit 70.
Das Interview, aus dem die Zitate stammen, führte Hans von Bock.