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Wie Kent Nagano auf Französisch musiziert

Rick Fulker
19. März 2019

Auf Abschiedstournee in Europa mit dem Orchestre Symphonique de Montréal erklärt der Stardirigent der DW, warum Quebec kulturell eher zu Europa gehört - und was er mit fast 70 Jahren noch alles vorhat.

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Kent Nagano
Bild: OSM

Seit Jahrzehnten gehört der 67-jährige in Kalifornien geborene Maestro zur europäischen Musiklandschaft. Nach wichtigen Posten in Berlin und München ist Nagano derzeit Generalmusikdirektor der Hamburger Staatsoper. Bislang blieb er gleichzeitig aber auch in Nordamerika präsent, 2003 wurde er der Erste Musikdirektor der Los Angeles Opera und seit 2006 ist er Chefdirigent des Orchestre Symphonique de Montréal. Seine Zeit dort geht 2020 zu Ende. Während seiner Abschiedstournee in Europa vom 11.-25. März haben wir uns mit dem Jetsetter unterhalten.

Deutsche Welle: Nach fast zwei Jahrzehnten Zusammenarbeit mit den Montrealer Sinfonikern und 13 Jahren als deren Musikdirektor, worauf schauen Sie zurück, was bleibt in der Erinnerung präsent?

Kent Nagano: Eine so lange Arbeitsbeziehung hat Seltenheitswert und ist wirklich ein Luxus, denn einige Dinge können sich nur mit der Zeit entwickeln und setzen voraus, dass man in eine wesentliche Tiefe vordringen kann. Dennoch bleibt unsere Beziehung heute genau so frisch wie vor fast zwanzig Jahren. Wir entdecken immer wieder Neues in einander und inspirieren uns gegenseitig. Als wir zum Beispiel jetzt in der Hamburger Elbphilharmonie aufgetreten sind: Anstatt sich von diesem modernen Saal mit seiner ganz anderen Akustik einschüchtern zu lassen, haben die Musiker die Herausforderung voll angenommen und die Erfahrung ausgekostet. Wunderbar, diese Freude und Energie dabei!

Holzvertäfelter viereckiger Konzertsaal mit Orchester auf der Bühne und Orgelpfeifen dahinter
Der Saal Maison Symphonique Montreal wurde 2011 eingeweihtBild: Jean Buithieu

Zusammen haben wir aber auch ganz andere Sachen erreicht: einen neuen Konzertsaal mit einer außerordentlich guten Orgel gebaut, einen Chor ins Leben gerufen, eine Musikschule auch. Und voriges Jahr gingen wir zum zweiten Mal auf Tournee im Polarkreis.

Was sind die besonderen Qualitäten dieses Orchesters?

Wie man von einem nordamerikanischen Orchester erwarten kann, spielen sie mit großer Leichtigkeit und großem Können. Aber die Kultur ist eine andere. Quebec ist die einzige Region Nordamerikas, die sich eigentlich nie kulturell von Europa abgesetzt hat. Es gab nie eine Revolution dort, keinen Unabhängigkeitskrieg wie in den Vereinigten Staaten: Dort war der Bruch mit Europa klar vollzogen.

Quebec ist fast das Gegenteil: Hier wurden stets enge wirtschaftliche, kulturelle und gesellschaftliche Bindungen zu Europa gepflegt. Das äußert sich sogar im Klang dieses Orchesters. Es ist immer aufregend zu erleben, wie wir diese einzigartige musikalische Sprache fortentwickeln können, die die kulturellen Besonderheiten von Quebec widerspiegelt - und gleichzeitig die Sensibilität für das europäische Repertoire.

Auf dem Programm Ihrer Abschiedstournee steht viel französische Musik. Haben die Musiker aus Montreal einen besonderen Zugang zum französischen Repertoire?

Meiner Meinung nach, ja. Sprache und Ästhetik gehen untrennbar zusammen. Eine Sprache fußt auf einer bestimmten Kultur. Rhythmus, Farbe, Feinheiten und Wortschatz sind kulturspezifisch. Und die Sprache hat auch eine Auswirkung auf die Art und Weise, wie man musiziert: Atmen, Phrasierung, Intensität und Tonfarbe sind sprachlich geprägt. Also gibt es für mich durchaus eine Verbindung zwischen der französischen Sprache und den besonderen, raffinierten Tonfarben, die hier zur Anwendung kommen.

Wenn Sie mit Orchestermusikern proben, wie äußern Sie sich? Eher schlicht und praktisch, oder auch mal philosophisch?

In der Musik gibt es keine Grenzen. Innerhalb einer Minute kann man sofort vom Praktischen zu ganz Anderem kommen: Man erzählt von einem Bild oder einem Gemälde, nimmt Bezug auf ein Naturphänomen oder etwas aus Philosophie oder Geschichte. Man nimmt das, was einem gerade in den Sinn kommt, um zu beschreiben, was es ist, das wir zusammen in Form von Klang kreieren sollen.

Sie wurden in Kalifornien geboren und sind Amerikaner in dritter Generation. Gleichzeitig sind Sie beruflich tief in der Alten Welt verwurzelt. Fühlen Sie sich immer noch als Amerikaner?

Ich habe natürlich einen amerikanischen Pass, und wir haben auch einen Wohnsitz in San Francisco. Aber einmal davon abgesehen ist es ganz klar, dass Kulturen stets im Wandel begriffen sind. Sie werden geboren, durchschreiten Entwicklungsphasen, und im Laufe der Zeit gehen viele zu Ende. Ganz gewiss existieren die Vereinigten Staaten, in denen ich aufgewachsen bin, nicht mehr. Das ist weg, und etwas ganz anderes ist an seiner Stelle entstanden.

Kalifornier sprechen heute sogar ganz anders als anno 1966. Das Gleiche gilt für New York oder Boston, und wahrscheinlich würden die Menschen in Deutschland oder Frankreich dasselbe sagen. Das ist vollkommen natürlich und normal. Vergebens, wenn man versucht, an etwas festzuhalten, das bereits entwichen oder verblasst ist.

Also der Gedanke, sich amerikanisch zu fühlen, ist wenig beständig. Das Wichtigste, glaube ich, ist, der Tatsache aufgeschlossen zu bleiben, dass klassische Musik jenseits von Zeit und Mode existiert - aber nur, wenn wir das zulassen. Das heißt: Als Interpreten müssen wir ständig lernen, forschen, den Sachen immer wieder neu auf den Grund gehen, Inspiration regenerieren - und alle zur Verfügung stehenden Mittel dazu einsetzen. Für diese großartige Tradition reicht es nicht, wenn wir das, was wir meinen, gehört zu haben, einfach wiederholen. Also für mich bedeutet die Musik mehr als die USA 2019 oder irgendein anderes Land oder irgendeine andere Zeit. Wenn man ein großes Meisterwerk aufführt, denkt man eigentlich nicht darüber nach, wo man zufällig geboren wurde.

Kent Nagano beimn dirigieren
Kein Detail zu klein, kein Thema zu groß für diesen Dirigenten.Bild: picture-alliance/dpa

Sie erreichen bald Ihr 70. Lebensjahr - kein allzu hohes Alter für einen Dirigenten.  Welche Ziele haben Sie jetzt?

Es gibt den Spruch: Je mehr man weiß, desto mehr wird klar, wie wenig man überhaupt über etwas wissen kann. Und das stimmt.

Zu diesem Zeitpunkt habe ich mich entschieden, vom Berufsmodell, das ich seit Jahren hatte, abzukehren: gleichzeitig an einem Vollzeit-Sinfonieorchester und einer Vollzeit-Oper beschäftigt zu sein. Ich werde aber in Hamburg bleiben, es ist eine sehr wichtige Zeit in der Entwicklung der Staatsoper.

Ich möchte aber auch anderen Sachen nachgehen, die viel Lern- und Forschungszeit erfordern. Ein Projekt ist bereits im Gange: Bei den "Wagner-Lesarten" gehe ich zusammen mit Concerto Köln der historischen Aufführungspraxis dieses Komponisten nach. Dazu gehören sechs bis sieben Jahre musikwissenschaftlicher Forschung und Aufführung. Außerdem interessiere ich mich sehr für die Musik von Johannes Ockeghem und werde mich auch in die Renaissance-Musik vertiefen.

Also das Wichtigste: Anstatt so viel Zeit mit offiziellen, institutionellen Verpflichtungen zu verbringen, werde ich viel flexibler sein können.

Das Gespräch führte Rick Fulker.