Keine Zeit für "Vive la France"
8. Mai 2017In den deutschen Medien ist die Stimmung größtenteils ekstatisch. "Europa atmet auf", schreibt die Süddeutsche Zeitung" in München, "Vive la France!", jubelt Die Welt über den Wahlsieg von Emmanuel Macron am Sonntag. Den Freudentaumel erklärt die Wochenzeitung Die Zeit sich folgendermaßen: "Der neue Präsident Frankreichs ist weder links noch rechts, noch keine 40, ohne Partei im Rücken und verdammt EU-begeistert. Ist das gut? Ja, aber hallo!" Sie postuliert gar den Beginn einer neuen politischen Ära: "Willkommen im Europa der schnellen Geschwindigkeit."
In der Schweiz ist man schon wesentlich kritischer ob der Erlöserrolle Macrons: "Dieser Präsident ist zum Erfolg verdammt", warnt der Tagesanzeiger aus Zürich: "Wenn er wirklich Reformen durchsetzen will, dann braucht er Koalitionen. Eine einfache Mehrheit bringt ihm nichts. Das mussten seine Vorgänger François Hollande und Nicolas Sarkozy erfahren. Beide haben trotz klaren Mehrheitsverhältnissen gar nichts erreicht."
König, Sieger, Hoffnungsträger Südeuropas?
Im Süden Europas sieht man in Macron fast schon einen Heilsbringer: "Emmanuel, der junge König, der aus dem Élysée ein Start-up machen wird", nennt ihn die römische Zeitung La Repubblica. Das Mailänder Blatt Corriere della Sera hofft, dass Frankreich nun nicht länger Teil des Problems, sondern Teil der Lösung sein werde und gratuliert: "Wieder einmal gelingt es Frankreich in der jüngeren Geschichte, eine überraschende Führungskraft hervorzubringen."
In Griechenland bezeichnet die Zeitung Ethnos die "französische Ohrfeige für den rechtsextremistischen Alptraum" als "Hoffnung für Griechenland". Auch die Athener Zeitung Efimerida ton Syntakton sieht in dem Sieg Macrons eine "Barrikade gegen die extreme Rechte" und "Erleichterung in Europa".
Macrons Sieg räume aber Europas Krise nicht aus der Welt, warnt die rechtsliberale spanische Zeitung El Mundo: "Die große Gabe Macrons bestand darin, sich im richtigen Moment als neuer Mann zu präsentieren, der die diskreditierte Pariser Elite hinter sich lässt." Mit seinen 39 Jahren sei er aber praktisch ein Politikneuling. "Abseits seiner Wahlversprechen muss der gewählte Präsident, als erste und unmittelbare Herausforderung, das Talent und die Fähigkeit beweisen, die Zügel der Macht zu übernehmen."
London blickt skeptisch durch die Brexit-Brille
In Großbritannien sieht man den Machtwechsel in Frankreich vor allem unter einem Aspekt: dem bevorstehenden Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU. "Frankreichs neue Hoffnung legt Wolke über Brexit", titelt The Daily Telegraph in London. Das sei laut der Zeitung The Guardian eher "Grund zur Erleichterung denn zur Freude":"Jedes andere Ergebnis wäre eine europäische Katastrophe gewesen, und ausnahmsweise lagen die Meinungsumfragen - glücklicherweise - richtig."
"Die Niederlage von Marine Le Pen scheint fürs Erste darauf hinzudeuten, dass der trumpsche Populismus seinen Höhepunkt überschritten hat", schreibt die Londoner The Times, warnt aber: "Obwohl er ein ehemaliger Sozialist ist, stellte sich Macron dieser Wahl als Kandidat seiner eigenen neuen Partei, der Bewegung 'En Marche!'." Das bedeute, dass er bislang über keine Abgeordneten verfügt und zudem Schwierigkeiten haben dürfte, nach der Parlamentswahl im Juni eine Mehrheit zustande zu bringen.
Ende des politischen Establishments?
Die australische Zeitung Sydney Morning Herald sieht in dem Sieg Macrons einen klaren Trend für Westeuropa: "Die Wähler haben den Mainstream und dessen Spitzenpolitiker satt. Aber sie sind noch nicht bereit, der extremen Rechten Macht zu überlassen."
Doch auf die Frage "Ist Europa gerettet?", antwortet die national-konservative lettische Tageszeitung Latvijas Avize sich selbst: "Ja - aber nur vorübergehend. Denn die Probleme, die zu dem Phänomen Le Pen geführt haben, sind noch nicht verschwunden."
Frankreichs Probleme zählte die russische Regierungszeitung Rossijskaja Gaseta vor der Wahl auf: "Die Arbeitslosigkeit zu überwinden, den Terrorismus zu zerstören, die wegen der Wahl gespaltene Gesellschaft zu einen" - nicht ohne Macrons Qualitäten für diese Herausforderungen in Frage zu stellen: "Kann der frühere Wirtschaftsminister unter Hollande zu Reformen übergehen, die für die realen Interessen Frankreichs wichtig sind - und nicht nur für Brüssel und seine Freunde in den Banken, die Macron so teuer sind?"
Macron: Teil des Systems, Teil des Problems?
Auch die belgische Zeitung De Standaard warnt vor einer "Europa atmet auf"-Euphorie. Der Kampf um die Herzen und Köpfe der Europäer sei noch lange nicht gewonnen. "Das Risiko ist groß, dass das Establishment erleichtert aufatmet und weitermacht wie bisher."
Dass könnte auch unter Macron so bleiben, warnt die brasilianische Zeitung Folha de São Paulo: "Macron verkörpert eine sehr spezifische Version der Erneuerungspolitik. Es ist gewissermaßen ein Gegenkandidat zum Establishment, repräsentiert aber zugleich dasselbe System."
Die regierungsnahe Budapester Tageszeitung Magyar Idök beschwört jene Ignoranz des politischen Establishments herauf und kritisiert: "Die hysterischen liberalen Politiker und ihre lautstarken Presseorgane haben schon lange vorher entschieden, was gut ist für uns Europäer. Sie lieben es, die Vorgänge der Weltpolitik als Schlacht zwischen dem Guten und dem Bösen erscheinen zu lassen. Jenen Regierungen, die von ihren Ansichten abweichen, geben sie nicht einmal eine Chance."
Der Sieg von Emmanuel Macron ist also dramatisch und beeindruckend, doch für Euphorie bleibt keine Zeit - oder wie The New York Times schreibt: "Er übernimmt eine tief gespaltene Nation." Dies habe Macron in seiner Siegesrede auch angesprochen und wiederholt die "immense Aufgabe" beschworen, die vor ihm liege. Aber, so die US-Zeitung: "Diese beginnt unmittelbar."
Frankreich weiß um seine Herausforderung
Das scheinen die Franzosen selbst am besten zu wissen. Die katholisch-konservative Zeitung La Croix will ihren neuen Präsidenten nicht vergessen lassen, dass er auf sehr gute und zugleich sehr schlechte Weise gewählt worden sei: "Auf sehr gute Weise, weil er eines der höchsten Wahlergebnisse in der Geschichte von Frankreichs Fünfter Republik erzielt hat. Auf sehr schlechte Weise, weil viele Bürger nicht aus Zustimmung für ihn gestimmt haben, sondern nur, weil sie die Bedrohung durch den Front National ausschließen wollten."
Und auch die linksgerichtete Pariser Tageszeitung Libération benennt als größte Herausforderung des neuen Präsidenten: "Nach und nach den Graben zu schließen, der das glückliche Frankreich vom wütenden Frankreich trennt; das Frankreich, dem es gut geht, vom abgehängten Frankreich."