Die alltägliche Gewalt in West-Kamerun
31. Dezember 2020"Fahrt weiter", ruft uns ein Soldat zu mitten im Zentrum von Bamenda, der Wirtschaftsmetropole im Nordwesten Kameruns. Wir haben angehalten, weil auf dem Boden der Straße eine riesige Blutlache zu sehen ist, daneben ein paar Plastik-Latschen. "Vielleicht ist es nur Tierblut, wir ermitteln noch", sagt der Soldat.
Im Hintergrund gehen Soldaten von Haus zu Haus. Eine Straße weiter bringen sie etliche junge Männer auf einen Lastwagen, weil diese sich nicht ausweisen können. "Wir haben Angst vor dem Militär, die machen uns sehr wütend", sagt ein junger Motorrad-Taxi-Fahrer.
Seit 2016 eskaliert in Kamerun die Gewalt. Damals gingen in Bamenda Anwälte auf die Straße, protestieren gegen die Vernachlässigung der englischsprachigen Minderheit im Westen des zentralafrikanischen Landes. Weite Teile der Zivilgesellschaft schlossen sich an.
Anglophoner Westen sieht sich benachteiligt
In den 1960er-Jahren wurde Kamerun unabhängig - und ein früheres französischsprachiges Mandatsgebiet und ein englischsprachiges zusammengefügt. Offiziell gibt es seitdem zwei Amtssprachen, zwei Bildungssysteme, zwei Rechtssysteme.
Doch in der Realität fühlt sich die Minderheit im anglophonen Westen Kameruns seit Jahren unterdrückt und benachteiligt. Die Regierung reagiert 2016 mit Gewalt auf die friedlichen Proteste - mindestens sechs Menschen sterben. Daraufhin gründen sich mehrere bewaffnete Widerstandsgruppen. Die Situation eskaliert - und bleibt außer Kontrolle.
Die abgetauchte Vaterfigur
Bamendas Bürgermeister Paul Achobang ist Mitglied der Partei von Präsident Paul Biya, der seit fast 40 Jahren in Kamerun an der Macht ist. Seit Beginn der Krise hat der 87-jährige Dauerregent die Region nicht ein einziges Mal besucht, dafür aber wochenlang in Luxushotels in der Schweiz genächtigt und dafür ganze Etagen gebucht.
Trotzdem sei Biya - dessen Portrait dem Bürgermeister hinter seinem Schreibtisch permanent über die Schulter schaut - eine echte Vaterfigur. Er wolle für alle das Beste, habe allen eine Amnestie angeboten. Wenn die Region vernachlässigt wurde, dann weil die Parlamentarier zu faul waren oder der Kuchen zu klein, meint der Bürgermeister.
Die Regierung würde ja gerne die katastrophalen Straßen reparieren - aber keine Firma wolle den Auftrag annehmen: zu gefährlich. "Ist Paul Biya der Grund?", fragt Achobang und antwortet selbst: "Nein, die Leute in Bamenda."
Außerdem habe sich die Situation in der Stadt schon deutlich verbessert - auch dank der Operation "Clean Bamenda", bei der das Militär in den vergangenen Wochen verstärkt Präsenz zeigt. "Früher oder später werden wir hier in der Stadt keine Schüsse mehr hören", kündigt Achobang an.
Nur wenige Stunden vergehen und erneut sind in ganz Bameda Schüsse und eine Explosion zu hören. Zwei Tage später wird Nsoh Macpeace beerdigt. Separatisten und Soldaten kämpften vor seinem Haus. Als der Achtjährige danach rausging, explodierte eine Granate. "Der Junge war so erfahren - in all den vier Jahren wusste er immer genau, wo er sich verstecken muss, wenn geschossen wird", sagt seine Tante Gladys Kum und kann sich vor Schmerz und Tränen kaum auf den Beinen halten.
Auch an diesem Tag hatte er sich versteckt, mit der Großmutter. "Es ist, als ob diese Explosion nur auf das Kind gewartet hat", sagt Kum. "Ich weiß nicht warum Gott so etwas erlaubt. Wie lange wird das noch so weitergehen? Wie lange?"
Stadt der Furcht
Bamenda ist eine Stadt voller Furcht - vor Übergriffen vor Soldaten und vor Übergriffen von Separatisten. Jeder hier kennt jemanden, der für Lösegeld entführt wurde. Vor einer Schule stehen am Morgen etliche Kinder, packen die Schuluniformen aus ihren Rucksäcken und ziehen sich im Freien um, bevor der Unterricht beginnt. Die Mädchen und Jungen haben Angst vor Angriffen und Entführungen durch Separatisten, wenn sie in Schuluniform durch die Stadt gehen.
Auf dem Land haben die meisten Schulen noch immer geschlossen. Seit vier Jahren. Erzwungen von Separatisten, die so die Regierung unter Druck setzen wollen. Im Oktober wurden sieben Schüler beim Angriff auf eine Schule in der Stadt Kumba ermordet.
Betrunkene Soldaten, bewaffnete Separatisten
Wir fahren in das Dorf Numba, die Straße ist voller Checkpoints, an denen Sicherheitskräfte ganz offen Schnaps trinken und Schmiergeld kassieren. Kurz darauf hält uns auch eine Gruppe Separatisten an, bewaffnet mit Jagdgewehren und Macheten. Ihr Anführer Kevin stellt sich als ehemaliger Student der Universität in Bamenda vor, während ein anderer Kämpfer neben ihm die Geldscheine zählt, die sie von den passierenden Autos einsammeln.
Das sei kein Schutzgeld, sagt Kevin, eher eine freiwillige Abgabe der Bevölkerung für die Kämpfer. Die Bösen - das seine nur die Soldaten: "Sie vergewaltigen, zünden Häuser an. Sie begehen so viele Verbrechen. Selbst die jungen Frauen vergewaltigen sie."
Angekommen in Numba kann Pfarrer Roland Arrey diese Schuldzuweisungen nicht mehr hören. "Beide Seiten wollen ihre Geschichte erzählen, um zu behaupten, dass sie gewinnen", sagt Arrey. "Aber keiner will einen echten Dialog. Kinder sterben und sie beschuldigen sich. Sie spielen mit den Leben der Menschen."
Sowohl Militär als auch Separatisten, so der Vorwurf, profitieren finanziell vom Konflikt. Die Regierung hat wichtige Separatisten-Führer eingesperrt. Mittlerweile sprechen die vielen Gruppen nicht mehr mit einer Stimme, einige agieren wie Banditen.
Während anfangs noch viele im Dorf mit den Separatisten sympathisierten, hat sich inzwischen die Stimmung gewandelt. Pfarrer Arrey läuft mit gesenktem Blick durch die zerstörte Schule im Dorf. Auf dem Boden liegen zerrissene Schulhefte und zerstörte Bänke. Im September sollte die Schule wieder öffnen - doch Separatisten vertrieben die Lehrer. "Wie soll eine solche Gemeinde eine Zukunft bauen, mit Kindern, die nicht zur Schule gegangen sind?”, fragt der Geistliche.
Dialog gewünscht?
Die deutsche Bundesregierung antwortet Anfang 2020 auf eine Kleine Anfrage im Bundestag, dass durch beide Konfliktparteien gravierende Menschenrechtsverletzungen begangen worden seien. Nur ein Dialog könne die Krise lösen und Deutschland begrüße auch neue Gesetze der Regierung zur Dezentralisierung als "wichtiges Signal ihrer grundsätzlichen Kompromiss- und Dialogbereitschaft".
Vor zwei Jahren debattierte auch der Bundestag über die Lage in dem zentralafrikanischen Staat. Doch ein Antrag für mehr deutsches Engagement bei der Eindämmung der Krise in Kamerun wurde letztendlich abgelehnt.
Roland Arrey hat in Numba trotz aller Frustration ein Zeichen für Hoffnung gesetzt und ein Freizeitzentrum aufgebaut. Jugendliche bekommen hier eine handwerkliche Ausbildung als Frisör oder Schneider, für die Kinder gibt es drei Mal in der Woche ein alternatives Schulprogramm.
Sämtliche Kinder im Dorf sitzen deshalb heute in einem überfüllten Raum. Den Unterricht übernehmen zwei Freiwillige aus dem Dorf: In einer Ecke bringt eine Frau den Älteren das Schreiben bei, in der anderen ließest eine andere den Jüngeren ein Buch vor.
Ein solches Zentrum sei ein Segen, sagt Numbas Pfarrer Arrey und lächelt. Ohne Hoffnung hätte das Leben keinen Wert mehr.