Kein Frühling in Algerien
12. Mai 2012Isabelle Werenfels kann es nicht fassen. Noch vor Kurzem hatte die Mitarbeiterin der Stiftung Wissenschaft und Politik Algerien besucht und mit Erschrecken festgestellt, wie unverändert alles war. "Das kann eigentlich nicht wahr sein, dass der Arabische Frühling so spurlos an einem Land vorüber gegangen ist", meint sie im Interview mit der Deutschen Welle.
Algerien hat gewählt, und verändert hat sich nichts. Die Parlamentswahl hat die Nationale Befreiungsfront FLN von Präsident Abdelaziz Bouteflika deutlich gewonnen, so wie schon immer. Bouteflika ist bereits seit 1999 im Amt. Zusammen mit der RND, der Partei von Ministerpräsident Ahmed Ouyahia, kommt die eher konservative FLN auf eine bequeme absolute Mehrheit im Parlament, das ohnehin weitgehend machtlos ist. Die Islamisten landeten abgeschlagen auf dem dritten Platz.
Subtile Wahlmanipulationen
Die Opposition hatte sich deutlich bessere Chancen ausgerechnet und spricht von Wahlbetrug. Auch der deutsche Friedens- und Konfliktforscher Werner Ruf ist dieser Meinung. Er hält die hohe Wahlbeteiligung im dünn besiedelten Süden des Landes für verdächtig. "Dort kann nicht genau kontrolliert werden. Wahrscheinlich gab es Manipulationen."
Auch SWP-Expertin Werenfels hält Betrug für möglich. Schon im Vorfeld hatte sie in Algerien Unregelmäßigkeiten beobachtet: "Wenn die FLM-Partei eine Wahlkampf-Veranstaltung hatte, dann wurde die gesamte Verwaltung geschlossen und die Mitarbeiter dort hingekarrt." Bei Veranstaltungen der Opposition habe man dagegen weiterarbeiten müssen. "Es sind subtile Mechanismen, es muss nicht immer die gefälschte Wahlurne sein."
Keine wirkliche Alternative in Sicht
Doch Werenfels ist davon überzeugt, dass diese Art von Manipulationen gar nicht nötig gewesen wären. Die Tendenz sei auch ohne Wahlfälschungen dieselbe geblieben. "Es hat eine enorme Entpolitisierung gegeben. Wenn man mit den Leuten spricht, sagen sie: 'Wir können eh nichts beeinflussen, die machen ohnehin was sie wollen'."
Dafür spricht auch die insgesamt niedrige Wahlbeteiligung. Von den 22 Millionen Wahlberechtigten in Algerien haben nur knapp 10 Millionen ihre Stimme abgegeben, denn eine echte Alternative stand nicht zur Wahl. Die islamistischen Parteien, die sich zur Wahl gestellt haben, hätten schon vorher mit dem Regime gemeinsame Sache gemacht, erklärt Friedensforscher Werner Ruf. "Die hatten teilweise schon Ministerposten, und haben sich mit dem korrupten System arrangiert. Deshalb konnten sie den islamistischen Protest nicht kanalisieren."
Das Bürgerkriegs-Trauma
Die einzige islamistische Partei, die eine Chance auf Erfolg gehabt hätte, durfte nicht antreten: die Islamistische Heilsfront. Diese Partei wäre schon bei den Wahlen 1991 der deutliche Sieger gewesen. Doch dann intervenierte das Militär und es kam zu einem Bürgerkrieg, dem 100.000 bis 200.000 Algerier zum Opfer fielen. Dieses Trauma wirkt bis heute nach.
"Die algerische Bevölkerung sieht im Arabischen Frühling ein Déjà-vu", ist Isabelle Werenfels überzeugt. In den späten 80er Jahren gab es in Algerien Jugendaufstände und Unruhen. Die Elite wurde gespalten in Reformbefürworter und Reformgegener. Die Reformer setzten sich durch und versprachen Demokratie und eine neue Verfassung. Doch die freien Wahlen endeten im besagten Bürgerkrieg zwischen Militär und Islamisten.
Der Arabische Frühling als Schreckgespenst
Die Regierung spiele jetzt mit dieser wieder neu aufkeimenden Sorge, meint Werenfels. "Der Arabische Frühling wurde in algerischen Medien dargestellt als eine Welle der Destabilisierung, mit Waffenschmuggel, Gewalt, mehr Terrorismus und Blutvergießen." Deshalb hätten die Algerier auf Stabilität gesetzt, auch wenn sie sich über vieles beklagten. "Vom Reichtum des Öl-Staates kommt kaum etwas bei der Bevölkerung an, das Land ist unglaublich schlecht verwaltet, die Korruption ist sehr hoch", beschreibt die SWP-Expertin die Situation. "Doch die Menschen haben die Erfahrung gemacht, dass es noch schlimmer sein kann."
Präsident Bouteflika hat es in den vergangenen Jahren zudem verstanden, geschickt Versprechungen abzugeben: eine Revision der Verfassung, Wohnbauprojekte. Er ließ außerdem viele politische Parteien wieder zu, doch eine wirkliche Gefahr stellten sie für ihn nicht dar, weil dadurch die Opposition nur weiter zerfasert wurde. Bouteflika hob den 19 Jahre lang geltenden Ausnahmezustand auf und ließ viele Löhne erhöhen. Dazu nutzte er die Erdöleinnahmen des Staates. Dadurch seien die Leute indirekt gekauft worden, meint Politik-Expertin Werenfels.
Keine landesweiten Proteste
Die Gegner Bouteflikas und der Militärregierung hätten es zudem nicht verstanden, ihre Proteste zu bündeln, sagt Konfliktforscher Werner Ruf im Deutsche Welle-Interview. "Es gibt ungeheuer viel Dynamik auf lokaler Ebene. Es geht kaum ein Tag vorbei ohne Streiks oder Straßenblockaden, aber es gelingt nicht, das landesweit zu organisieren." Und Werenfels ergänzt: "Die Demonstrationen waren immer sehr fragmentiert. Das waren immer einzelne Berufsgruppen, es hat sich nichts vermischt." Und so habe sich keine echte Dynamik entwickeln können.
Ändern wird sich Ruf zufolge nichts daran, selbst bei einem Abgang Bouteflikas. "Er ist eine reine Marionette. Das Militär wird eine Alternative aus dem Hut zaubern, denn die wahre Macht liegt beim Militär. Bouteflika und das Parlament sind nur Galionsfiguren." Wenn man sich die 50-jährige Geschichte der algerischen Unabhängigkeit betrachte, stelle man fest, dass alle Präsidenten Leute des Militärs waren.
Strippenzieher im Hintergrund
Wer genau die Fäden zieht sei schwierig zu erkennen, meint Ruf. Auch Isabelle Werenfels glaubt, dass es verschiedene Machtzentren gibt, "die nicht in den formellen politischen Institutionen agieren." Sie glaubt aber an die Möglichkeit eines Wandels, sollte Bouteflika 2014 nicht mehr antreten. Denn der Präsident sei in den vergangenen Jahren das Gesicht der Stabilität gewesen.
Das System anzugreifen ist Werenfels zufolge schwierig. "Algerien ist sehr konservativ, und die FLN-Partei hat einen sehr wertkonservativen Flügel, der sich in der gesellschaftspolitischen Vision so gut wie nicht von den islamistischen Parteien unterscheidet." Das sei ein deutlicher Unterschied zu Tunesien, einem Ausgangsland des Arabischen Frühlings.
"Alles hat sich verdreht", meint Isabelle Werenfels von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Algerien, das lange Zeit als nicht stabil galt, sei jetzt ironischerweise der Stabilitätsanker in der Region.