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Algerien im Jubiläumsjahr

Andreas Noll17. März 2012

Mit den Verträgen von Evian endete am 18. März 1962 der Algerienkrieg. Die Bevölkerung hatte sich die Unabhängigkeit von Frankreich erkämpft. Auf Demokratie und Rechtsstaat warten viele Algerier bis heute.

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Foto von der Algerienkonferenz von Evian (Foto: Keystone)
Bild: icture alliance/KEYSTONE

Vor einem Jahr sah es so aus, als wäre Algerien das nächste Land in der Dominoreihe des Arabischen Frühlings. Im Februar 2011 gingen auch in Algier Tausende Menschen auf die Straße, um für Demokratie und Rechtstaatlichkeit zu demonstrieren. Doch der Funke sprang nicht über, die Proteste verebbten. Die Omnipräsenz von Polizei und Geheimdienst erkläre das Scheitern aber nur zu einem Teil, glaubt Algerien-Expertin Isabelle Werenfels von der Berliner Stiftung für Wissenschaft und Politik: "Ich bin gerade aus Algerien zurückgekommen, und dort haben mir viele Leute gesagt: 'Wir wollen Wandel, aber wir wollen keine Destabilisierung'."

Tradition der politischen Gewalt

Die Sehnsucht nach Sicherheit und Ordnung vieler Algerier hängt eng mit der Geschichte zusammen. "Ein Land mit einer fürchterlichen Tradition der Gewalt im politischen Bereich", nennt das der Politikprofessor Werner Ruf. Historiker beziffern heute allein die Opfer des Bürgerkrieges der 1990er Jahre mit über 200.000 Toten und zählen bis zu 15.000 Verschwundene. Ein Krieg, den vor allem die damals nach der Macht greifenden Islamisten teuer bezahlen mussten. "Die Führung ist heute entweder vernichtet oder im Ausland", so Ruf.

Demonstranten in Algier im Februar 2011 (Foto: Rabbani Haitham)
Februar 2011: Proteste gegen das Regime in AlgierBild: DW

Und doch ist auch der Arabische Frühling nicht spurlos an Algerien vorübergezogen. Immerhin war der Druck aus der Bevölkerung so groß, dass Präsident Abd al-Aziz Bouteflika im April 2011 seinem Volk versprochen hat, Demokratie und Grundrechte zu stärken und mehr Parteien zuzulassen. Das Regime versteht es mit großem Geschick, die Sehnsucht des Volkes nach Ordnung und den Wunsch nach Veränderung zu bedienen. "Gerade die regierungs- und regimenahen Medien berichten immer wieder darüber, was schiefläuft in Libyen, und selbst in Tunesien, wo es ja auch aus westlicher Sicht eine sehr positive Entwicklung gibt, werden immer wieder die negativen Aspekte und alles, was Richtung Gewalt deutet, herausgestrichen", so Isabelle Werenfels.

Der Präsident wird nicht attackiert

Während sich in Tunesien, Ägypten und Syrien die Wut der Demonstranten vor allem gegen die autokratischen Herrscher richtete, steht Algeriens Präsident nicht im Zentrum der Kritik. "Bouteflika ist es gelungen, dass die Leute nicht ihn, sondern das Regime ablehnen. Der Hass gegen das System findet kein Gesicht", erklärt der renommierte algerische Schriftsteller Boualem Sansal diese Besonderheit. Die Politikwissenschaftlerin ergänzt: "In Algerien gibt es verschiedene Machtpole", so Werenfels, "es ist nicht so einfach zu sagen: Bouteflika tritt zurück! Es ist viel komplexer. In Algerien muss sich ein unglaublich korruptes, undurchsichtiges System verändern, und es reicht nicht, wenn einfach eine Person geht." Die Verfassung hat den Präsidenten zwar mit einer großen Machtbefugnis ausgestattet, aber Beobachter streiten darüber, wie groß der Einfluss Bouteflikas heute wirklich ist.

Porträt von Präsident Bouteflika (Foto: AP)
Mit Mini-Reformen kommt Präsident Bouteflika Demonstranten entgegenBild: AP

Ob Marionette des Militärs oder emanzipierter Herrscher: Gegen die algerischen Generäle könnte Bouteflika nicht regieren. Dabei beschränkt sich der Einfluss der Militärs nicht nur auf die Regierung, sondern erstreckt auch auf die Wirtschaft. "Die algerischen Staatseinnahmen stammen zu 98 Prozent aus dem Export von Erdgas und Öl, der wiederum von den Militärs und ihren Familien kontrolliert wird und die sich daran bereichern", umschreibt Werner Ruf die Strukturprobleme des Landes.

Ölrente ist Fluch und Segen zugleich

Trotz der alles überlagernden Korruption hat die Bevölkerung vom Ressourcenreichtum zuletzt profitiert. Viel Geld ist in den vergangenen Jahren in riesige Infrastrukturprojekte geflossen, deren Bau zumindest temporär auch die Arbeitslosigkeit der extrem jungen Bevölkerung gesenkt hat. Doch noch immer muss ein Drittel der Algerier mit weniger als einem Dollar pro Tag auskommen. Die Arbeitslosigkeit ist hoch. Die Algerien-Experten sind sich denn auch einig, dass die Modernisierung der Wirtschaft zu den drängendsten Problemen des Landes zählt. Schon in fünfzehn Jahren könnten die Erdölvorkommen erschöpft sein. Spätestens dann wird es für die Regierung nicht mehr möglich sein, die derzeit noch mit rund 20 Milliarden Euro prall gefüllte Staatskasse zu öffnen, um soziale Brandherde zu löschen.

Algerische Demonstranten im Februar 2011 in Algier (Foto: dpa)
"Im Arabischen Frühling haben immer spezifische Berufsgruppen demonstriert - keine breite Bewegung" - Politikwissenschaftlerin Isabelle WerenfelsBild: picture alliance/dpa

In den vergangenen Monaten hat die Führung für bestimmte Berufsgruppen Lohnerhöhungen von 20, 30 oder gar 50 Prozent verordnet und niedrigere Lebensmittelpreise durchgesetzt. "Alimentierung der Bevölkerung macht noch keine Ökonomie", warnt Wissenschaftler Ruf, "es gibt in Algerien keine mittleren und kleineren Unternehmen, die tatsächlich den Markt mit den nachgefragten Gütern beliefern könnten. Es gibt dadurch auch eine fürchterliche Arbeitslosigkeit, denn es fehlt auch an den Kunden, die Waren kaufen könnten. Das ist ein Teufelskreis."

Parlamentswahlen im Mai

Mit den Parlamentswahlen könnte in die algerische Politik Bewegung kommen. In dem stark auf den Präsidenten zugeschnittenen politischen System spielt das Parlament zwar eine untergeordnete Rolle, aber die Abgeordneten sollen nun eine neue Verfassung erarbeiten. Dass die Islamisten gestärkt aus der Abstimmung hervorgehen werden, gilt als gesichert. Gut möglich, dass sie auch den kommenden Premierminister stellen. Gerade die religiösen Parteien, glaubt Isabelle Werenfels, würden für eine Stärkung des Parlaments kämpfen, um dadurch den Einfluss der Armee, die wiederum den Präsidenten lenkt, zu schwächen. Ob die Streitkräfte eine solche Operation im Verfassungsgefüge allerdings zulassen, ist zweifelhaft.

Derzeit deutet nichts darauf hin, dass die Armee ihren Machtanspruch aufgeben könnte. Schließlich gelingt es dem Regime bislang auch, die Unzufriedenheit der Bevölkerung in Grenzen zu halten. Zumal sie eine breite Protestbewegung wohl nicht fürchten muss: "Algerien ist gesellschaftlich ein ausgesprochen heterogenes Land. Es ist riesig und sehr stark regionalisiert. Die Opposition ist extrem zersplittert", so Werenfels.

Werner Ruf sieht die Zukunftsaussichten Algeriens im Jubiläumsjahr der Unabhängigkeit düster: "Es ist keine Alternative für eine politische Wende da. Dieses System ist so verstrickt in Kriminalität, Korruption und Repression, dass ich wenig Chancen sehe, wie das Land da rauskommen soll."